Über unsere Strategie

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Über unsere Strategie

Eine Replik auf zwei Kritiken

Vorbemerkung

Dieser Text ist eine relativ kurzfristige und nicht bis ins Letzte theoretisch durchdachte Reaktion auf kritische Kommentare von Aníbal [LINK] und Fredo Corvo [LINK] an mehreren Texten von uns, die von den beiden auch ins Spanische und Englische übersetzt worden sind. An dieser Stelle möchten wir den Autoren danken für ihre Übersetzungsarbeit und auch für ihre kritischen Anmerkungen dazu!

In eigenen Worten zusammengefasst, bemängelten die Autoren vor allem die von uns vertretene Ansicht, dass die Arbeitszeitrechnung schon im Hier und Jetzt umgesetzt werden könne. Zu einigem Befremden führte dabei unsere Skepsis gegenüber der Idee der Weltrevolution sowie die von uns in unserer Rezension zu Cockshott und Cottrell getroffene Aussage, dass sich die Arbeitszeitrechnung innerhalb der bestehenden Ordnung quer zu den nationalen Grenzen ausbreiten könne. In diesem Zusammenhang gingen wir von einer Art Parallelwirtschaft, quasi von einer friedlichen Koexistenz von Arbeitszeitökonomie und Marktwirtschaft aus. Dabei gab es von uns auch Überlegungen dazu, inwiefern Arbeitszertifikate in Geld verwandelt werden könnten, um aus den marktwirtschaftlichen Kreisläufen Güter zu beziehen, die in der Arbeitszeitökonomie nicht vorhanden sind, ohne dabei Geld in die Arbeitszeitökonomie zu speisen. Diese recht spärlichen Überlegungen zur Parallelwirtschaft fanden ebenso viel Kritik wie unsere angeblich mangelnde revolutionäre Perspektive.

Mit ihrer Kritik haben die beiden auf eine wirkliche Leerstelle in unserer Theoriebildung hingewiesen. In unserer praktischen Bildungsarbeit sowie in vielen unserer Texte ging es uns vor allem darum, die „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“ darzustellen, wie sie in dem gleichnamigen Buch von der Gruppe internationaler Kommunisten (GIK) entwickelt worden sind. Dies diente vor allem den agitatorischen Zwecken der Popularisierung dieser Ideen sowie unserer Arbeitszeit-App. In ihrem Buch setzt die GIK eine erfolgreiche proletarische Revolution und damit fertige sozialistische Produktionsverhältnisse (Gemeineigentum an Produktionsmitteln, Räteverfassung etc.) einfach voraus. Unsere Überlegungen beschäftigen sich daher mit der Frage, wie man unter den gegenwärtigen Bedingungen überhaupt dorthin gelangen, wie die Theorie der Arbeitszeitrechnung zu einer materiellen Gewalt werden könnte. Wir geben an dieser Stelle zu, dass unsere bisherigen Anmerkungen dazu recht spärlich ausfielen und leicht zu Missverständnissen führen konnten. Wir möchten also die Kritiken von Aníbal und Fredo zum Anlass nehmen, uns noch einmal ausführlicher zu unserer Strategie zu äußern. Allerdings bleiben auch diese Überlegungen hier thesenhaft und sollten bei anderer Gelegenheit noch einmal in einem größeren Zusammenhang von uns dargestellt werden.

Theoretische Anmerkungen zur Praxis

Die gesellschaftliche und politische Lage ist heute eine andere als vor hundert Jahren: Der Kommunismus ist durch den Zusammenbruch der Sowjetunion weitgehend diskreditiert, die Arbeiterbewegung und ihre Organisationen sind in der Defensive und in den westlichen Gesellschaften allesamt reformistisch-keynesianisch ausgerichtet. Daneben existieren kleine linksradikale Splittergruppen und Sekten, in denen der Kommunismus durch ihre politische Bedeutungslosigkeit zu einem abstrakten Ideal verkommen ist. Wir können nicht erwarten, dass eine Mehrheit der Menschen einem solchen abstrakten Ideal folgt, welches keinen Prüfstein in der Realität hat. Selbst wenn wir konkret Arbeitskämpfe unterstützen und Betriebsorganisationen gründen: Wo, werden sich die Beteiligten fragen, ist der Nachweis, dass aus diesen einzelnen Kämpfen etwas Größeres entstehen kann, eine gesellschaftliche Synthese, die über den Kapitalismus hinausreicht und ein besseres Leben ermöglicht? Was sagt uns, dass der Kommunismus Kapitalismus und Faschismus nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich überlegen ist? Diese Fragen gilt es für viele, die an einer fundamentalen Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ein Interesse haben, zu klären!

Wir glauben aber, dass praktische Erfahrung hierbei überzeugender ist als gut ausgefeilte theoretische Argumente. Viele Menschen, nicht zuletzt die Arbeiter*innen, empfinden ein starkes Unbehagen in der kapitalistischen Gesellschaft, sehen aber keinen richtigen Ausweg daraus, weswegen sie sozialdemokratischen, neoliberalen oder gar rassistischen Ideologien anheimfallen, weil diese ihnen scheinbare Lösungen anbieten und – frei nach Gramsci – fertige Kohärenz schaffen, ohne das eigene Nachdenken zu bemühen. Das Denken ist nämlich eine menschliche Fähigkeit, die wie jede andere Fähigkeit erlernt werden muss, und die bei vielen Menschen aufgrund ihrer Lebenssituation verkümmert ist. Viele können die leidvollen Erfahrungen von Entfremdung und Fremdbestimmung im Alltag gedanklich überhaupt nicht bewältigen; der Gedanke an eine andere, bessere Welt ist überhaupt nur ein armseliger Trost und wenig nützlich, wenn man in dieser Welt zurechtkommen und überleben muss.

Wir sind der Ansicht, dass die Menschen den Sozialismus – insbesondere, wenn es ein selbstverwalteter, durch Räte organisierter Sozialismus sein soll – auch ein Stück weit erfahren müssen, um von ihm überzeugt zu werden. Deshalb wollen wir selbstorganisierte Netzwerke im Kleinen aufbauen, sozusagen „Nischenökonomien“, in denen die Menschen die Arbeitszeitrechnung erproben können; deshalb entwickeln wir eine Software-Anwendung, unsere Arbeitszeit-App, um den Menschen zu demonstrieren, dass die „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“ hier und heute praktikabel sind und mit den neuesten technischen Mitteln durchgeführt werden können. Mit Hilfe der App können die Menschen lernen, auf der Grundlage der Arbeitszeitrechnung über ihre eigenen produktiven Tätigkeiten Buch zu führen und sich darüber mit anderen zu verbinden. So lernen sie auch, was Selbstorganisation und (betriebliche) Selbstverwaltung bedeutet. Nur so gewinnen die Menschen auch das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten wieder und lernen – vielleicht auch mit Freude daran – die Prozesse und Arbeitsabläufe selbst zu regeln und zu steuern, ohne Aufsicht, ohne Überwachung, ohne Vorgesetzte!

Unsere Hoffnung ist natürlich, dass diese Netzwerke wachsen und sich immer weiter ausbreiten. Dabei müssen wir gar nicht die selbstverwalteten Strukturen selber aufbauen, sondern es gibt schon jede Menge Versuche und Formen selbstorganisierten Wirtschaftens, die wir miteinander in Zusammenhang bringen möchten. Es gibt bereits heute zahlreiche selbstverwaltete Kollektivbetriebe, besetzte und wieder instandgesetzte Betriebe, Genossenschaften mit langfristigen emanzipatorischen Zielsetzungen in (vermutlich) jedem Land. Sie stellen Bücher, Gemüse, Werkzeuge, Möbel, Webseiten oder Textilien her, sie bieten Taxifahrten, Kurierdienste, medizinische Versorgung, Kulturangebote, Gebäudereinigung und vieles mehr an. Sie haben sich bewusst oder aus einer Notlage heraus dafür entschieden, mit Einheitslohn und ohne Chef*in zu arbeiten.

Wir denken, dass diese Kollektivbetriebe die Arbeitszeitrechnung als Werkzeug nutzen könnten, um ihre unterschiedlichen Arbeiten untereinander zu koordinieren. Dafür wären im Prinzip nur regelmäßige Plena von Vertreter*innen der Betriebe sowie Planerstellungen durch die Betriebe notwendig. Unsere App kann dabei viele notwendige Buchhaltungsaufwände automatisieren. Wie genau würden diese Netzwerke aussehen, wie oft müssten sie sich treffen, wie würde die Plankontrolle ablaufen, wie wären die Zugangsvoraussetzungen, welche Entscheidungen würden zentral stattfinden? Das können wir nicht entscheiden, das ist Sache der Arbeiter*innen. Wir können von einem theoretischen Standpunkt nur abschätzen, dass es funktionieren kann und aktive Hilfe anbieten. Wir können auch nicht im Voraus entscheiden, wie groß diese Netzwerke werden und ob sie einen reinen Modellcharakter behalten oder gar „produktive“ Kooperationsnetzwerke werden.

Wir sind uns jedoch darüber im Klaren, dass Nischenökonomien noch nicht der Kommunismus sind. Sie werden relativ kleine Inseln im Kapitalismus sein und in Folge dessen in allerlei Hinsichten mit dem Kapitalismus verbunden und auf ihn angewiesen sein. Es wird also gerade am Anfang zu einer notwendigen Koexistenz von Arbeitszeitökonomie und Marktwirtschaft kommen. Um diese Art von Parallelwirtschaft kreisten unsere Überlegungen. Es sind praktische Probleme, für die wir eine Lösung suchen, um den Netzwerken mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können. Aber hierüber gleich mehr.

Langfristig bauen wir natürlich auf einen großen revolutionären Umbruch. Aber gerade in einer revolutionären Situation herrscht Chaos und es besteht immer die Gefahr, dass Demagogen und Stellvertretergruppen die (Staats-)Macht an sich reißen und alle selbstorganisierten Strukturen gewaltsam auflösen. Bis es zu einem solchen Augenblick kommt, wäre es von Vorteil, wenn bereits arbeitszeitbasierte Netzwerke existierten, die durch ihre Funktionsweise und ihre vielen Vorzüge schon an Attraktivität gewonnen haben und durch ihre bloße Existenz beweisen, dass ein humaner Sozialismus, jenseits von Markt und Staat, möglich ist. Daher halten wir die Selbstorganisation von Nischenökonomien für erstrebenswert. Erstens ist es die einzige Möglichkeit, wie die Arbeiter*innenklasse selbst Erfahrungen mit dieser Art des Wirtschaftens machen kann. Es könnte einen nicht-intellektuellen und nicht-elitären Zugang zu kommunistischer Praxis bieten. Zweitens bräuchte eine kommunistische Bewegung ganz einfach konkrete Erfahrungen, um die Theorie der Arbeitszeitrechnung weiterzuentwickeln und an die Gegenwart anzupassen. Auf die jetzigen Krisen werden weitere, vielleicht schärfere, Krisen folgen. Bis dahin sollte es für die Arbeiter*innenklasse und ihre Organisationen schon einen reichen Erfahrungs- und Wissensschatz rund um Selbstorganisation und Arbeitszeitrechnung geben, um zu verhindern, dass sie sich von Funktionären und Eliten aller Art entmündigen lassen.

Überlegungen zu einer Transformation der Ökonomie

Im Folgenden möchten wir zum besseren Verständnis unserer theoretisch-strategischen Überlegungen noch eine Skizze zu einer möglichen Transformation der Marktwirtschaft zu einer arbeitszeitbasierten sozialistischen Ökonomie vorstellen, die auch auf die oben genannten Missverständnisse einzugehen versucht. Vielleicht ist es sinnvoll zu unterscheiden zwischen:

1.) der Arbeitszeitökonomie im Kapitalismus,
2.) der Arbeitszeitökonomie parallel zum Kapitalismus und
3.) der vollentwickelten Arbeitszeitökonomie

Dies könnte eine Beschreibung verschiedener Stufen auf dem Weg zu einer vollständigen weltweiten Arbeitszeitökonomie sein. Es ist nicht als fertige Theorie gedacht, zumindest nicht hier und jetzt. Es geht nur darum, etwas besser zu erläutern, wie wir derzeit pragmatisch über einige Dinge denken. Zunächst einige Worte zur ersten Stufe „Arbeitszeitökonomie im Kapitalismus“: Aus unserer Sicht ist dies die Stufe, die wir im besten Fall schon jetzt erreichen könnten. Dies kann natürlich auf vielfältige Weise geschehen. Man könnte zwischen einer starken und einer schwachen Variante unterscheiden. Was wäre eine starke Variante? Beispielsweise ein revolutionärer Umbruch in einer größeren Region, etwa einer größeren Industrieregion. Was wäre eine schwache Variante? Zum Beispiel das von uns oben beschriebene Szenario, in dem es kleinere oder größere Netzwerke selbstverwalteter Betriebe auf Basis der Arbeitszeit gibt (idealerweise auf transnationaler Ebene, was vielleicht als stärkere Version der schwachen Version der ersten Stufe angesehen werden kann).

Aus rechtlicher oder staatlicher Sicht wäre eine schwache Version des ersten Falls der bereits existierenden „Solidarwirtschaft“ (Genossenschaften, besetzte Fabriken, Zeitbanken usw.) ähnlich. Wenn diese existiert, warum sollten nicht auch Netzwerke selbstverwalteter Betriebe auf Basis der Arbeitszeit möglich sein? Wir denken, dass eine schwache Version von Stufe 1 zumindest den Zwecken der Propaganda dienen könnte. Das wiederum bedeutet nicht, dass sie nur auf eine solche „instrumentelle“ Art und Weise betrachtet werden dürfte. Jede Arbeitszeitökonomie müsste natürlich auch allen, die in ihr arbeiten, direkt helfen und dienen; sie müsste jegliche Form von Ausbeutung vermeiden oder zumindest verringern. Solche Arbeitszeit-Netzwerke wären dennoch etwas Neues, etwas anderes als die „Solidarwirtschaft“, wie wir sie kennen, wenn auch nur in sehr geringem Maße. Solche Netzwerke in kleinem Maßstab wären sicherlich kein Kommunismus (auch wenn die beteiligten Unternehmen interne radikale Demokratie und „Gemeineigentum“ praktizierten). Aber sie wären trotzdem etwas anderes, weil sie nicht mit Geld, sondern mit Arbeitszeit operieren würden. Wer das durchweg leugnet, leugnet auch, dass es überhaupt einen Unterschied zwischen Geld und Arbeitszertifikaten gibt. Es ist zumindest dieser kleine Unterschied, mit dem wir rechnen, auf den wir hoffen.

Zweifellos wäre eine solche Arbeitszeitökonomie (schwache Version von Stufe 1) der Herrschaft des bürgerlichen Rechts unterworfen; sie müsste sich an staatliche Vorgaben halten und praktisch an seine „Liberalität“ glauben. Wir können natürlich nicht garantieren, dass die Arbeitszeitökonomie nicht verschiedensten Arten von staatlicher Repression und Manipulation ausgesetzt wäre. Wir wollen auch nicht behaupten, dass irgendein Staat ein objektives Interesse an der Arbeitszeitrechnung haben oder für sie Partei ergreifen könnte. Auch ein liberaler Staat ist ein Staat – der Staat des Kapitals! So könnte der Staat die Arbeitszeitökonomie z.B. dazu benutzen, den Sozialstaat weiter zu demontieren, wie es der „Solidarwirtschaft“ mit Blick auf den Neoliberalismus immer wieder vorgeworfen wird. Zunächst rechnen wir aber mit der genannten „Liberalität“ oder vielleicht eher mit einem gewissen Desinteresse von Seiten des Staates, wodurch sich solche Netzwerke – quasi unter dem Radar – ausbreiten könnten. Ein anderer und von uns bevorzugter Fall wäre natürlich der, dass die Arbeiter*innenklasse oder der gesellschaftliche Zuspruch zu solchen Netzwerken so stark geworden ist, dass der Staat dazu gezwungen ist, solche Netzwerke anzuerkennen.

Wir finden, dass die Arbeitszeitrechnung wirklich praktiziert und gewissermaßen eingeübt werden muss, bevor sie gesellschaftlich wirkmächtig werden kann. Denn von nichts kommt nichts. Als Materialisten sind wir der Meinung, dass sich eine neue Produktionsweise vorher zumindest in embryonaler Form bewährt haben muss, und dass eine wahrhafte Agitation und Organisierung nur in diesem Zusammenhang möglich ist. Wir sollten nicht einfach darauf vertrauen, dass sich die Räte in einer politischen Revolution automatisch für so etwas wie Arbeitszeitrechnung entscheiden werden, schon gar nicht unter den brutalen Bedingungen eines (Bürger-)Krieges (der bisher fast immer den Rahmen für Revolutionen bildete). Das Ergebnis von Revolutionen ist notwendigerweise das, was vorher da war, wenn auch nur in embryonaler Form.

Wenn wir in unseren FAQs sagen, dass es für die Praktizierung der Arbeitszeitrechnung zunächst keine große Revolution braucht, meinen wir damit die „eine große Weltrevolution“. Nicht, weil wir gegen sie sind, sondern einfach, weil wir sie in dieser Form für sehr unwahrscheinlich halten oder nicht ewig auf sie warten wollen. Wir denken, dass es einen sofortigen oder zumindest sehr schnellen Sprung auf Stufe 2 geben könnte (eine Stufe, in der etwa die Hälfte der Welt zur Arbeitszeitökonomie übergegangen ist), aber eben nicht unmittelbar auf Stufe 3. Wir können daher Fredo Corvo nur zustimmen, dass eine Revolution in einer bedeutenden Industriezone notwendig wäre. Wenn eine solche kollektivwirtschaftliche Zone die Arbeitszeitrechnung einführt, würden wir sie als eine starke Version von Stufe 1 betrachten. Wenn wir sagen, dass eine Arbeitszeitökonomie langsam, in kleinerem Maßstab und über nationale Grenzen hinweg wachsen könnte, dann haben wir uns eine solche stärkere Version von Stufe 1 vorgestellt. „Über nationale Grenzen hinweg“ bedeutet: Eine solche kollektivwirtschaftliche Zone könnte gegebenenfalls wirtschaftlichen Austausch mit Arbeitszeitrechnungs-Nischen in „liberalen“ Staaten haben. Eine solche Arbeitszeitökonomie müsste sich um ihre Außenbeziehungen zum kapitalistischen Umfeld kümmern. Die Frage der Währungsreserven würde sich automatisch stellen.

Exkurs: Geldproduzenten

Für kleine arbeitszeitbasierte Nischenökonomien haben wir uns das Konzept der „Geldproduzenten“ überlegt, das aber keineswegs als ausgereift betrachtet werden kann: Wir denken, dass es für Menschen, die nach wie vor Geldeinkommen beziehen, die Möglichkeit geben sollte, Teile ihres Einkommens der Arbeitszeitökonomie zur Verfügung zu stellen (weil sie diese als unterstützenswert erachten oder weil sie nur dort bestimmte Produkte erhalten). Auch Betriebe, die Geld einnehmen, könnten das gleiche tun. Sie alle müssen bei der öffentlichen Buchhaltung registriert sein und Pläne einreichen, in denen sie erklären, wie lange sie für jeden, sagen wir, Euro gearbeitet haben: Z.B. erwirtschaftet eine Anwältin in einer Stunde einen Gewinn von 90 Euro, ein Arbeiter 10 Euro. Das Geld wird durch die Pläne umdefiniert als ein Gebrauchsprodukt, das unterschiedlich viel Arbeitszeit gekostet hat. Dass diese Umdefinition weder das Geld aus der Welt schafft, noch die mit ihm verbundene Ausbeutung ist sonnenklar – aber das Problem ist ja eben, dass Geld in diesem Szenario noch nötig ist.

Wie andere Betriebe auch, können diese „Geldproduzenten“ nun eine Preis-Kooperation eingehen (vermutlich wäre es sogar zwingend erforderlich, dass sie dies tun), wodurch die „Ware“ Geld nun einen durchschnittlichen Stundenwert in Arbeitszeit erhält. In unserem Beispiel ergibt sich ein Durchschnitt von (10 + 90) : 2 = 50 Euro pro Stunde. Es ist wichtig zu verstehen, was das bedeutet: Die Anwältin bekommt genauso viele Arbeitszertifikate wie der Arbeiter, nämlich eines für jede Stunde Arbeit. Durch die (verpflichtende) Preis-Kooperation entsteht ein gemittelter Preis, wodurch die Arbeiterin nicht benachteiligt wird, obwohl sie länger für jeden Euro arbeiten muss.

Braucht nun ein Kollektivbetrieb Geld, um an kapitalistischen Märkten Produktionsmittel zu erwerben, kann er die Kosten der notwendigen Euros/Dollars/etc. in Arbeitszeit in seinem eigenen Plan angeben. Benötigt er just 50 Euro, gibt er eine Stunde als Produktionsmittel (P) oder Rohstoff (R) in seinem Plan an. In dem Plan des geldbedürftigen Betriebs tauchen nirgendwo die Euros auf, ebenso wenig wie ein Bierproduzent „Hopfen“ in seinen Plan schreibt, sondern z. B. 1000 Stunden R (als Repräsentant des benötigten Hopfens). Wenn der Plan genehmigt wird, kann der Kollektivbetrieb von der Kooperative der Geldproduzenten die entsprechende Summe beziehen. Der Transfer der Euros wird dann natürlich wie jeder andere Güterverkehr bei der öffentlichen Buchhaltung registriert.

Der Vorgang wäre unterm Strich vergleichbar mit einem Crowdfunding, aber einem Crowdfunding mit Gegenleistung, denn die Geldproduzenten, die ja auch Pläne einreichen, erhalten für ihre Arbeit eine Gutschrift an Stunden, mit denen sie Konsumgüter aus der Arbeitszeitökonomie beziehen könnten. Man könnte es auch als eine Art von Import/Export verstehen, wobei zur gleichen Zeit ein „Wechselkurs“ entsteht, der wiederum auf der Arbeitszeit beruht. Das war mit unserer These gemeint, dass das Geld in der Arbeitszeitökonomie lediglich Gebrauchswertcharakter hätte. Es hat hier buchstäblich nur – wie Marx im Kapital schreibt – den Gebrauchswert, Tauschwert zu sein. Innerhalb der Arbeitszeitökonomie wird es natürlich nicht zirkulieren, denn es wird intern nur mit Arbeitszeit geplant. Geld dient hier ausschließlich dem Austausch mit der kapitalistischen Außenwelt, sofern er notwendig ist: Entweder wollen Geldbesitzer Güter aus der Arbeitszeitökonomie oder Kollektivbetriebe erwerben Waren, die es an den Märkten nur gegen Geld gibt.

Dies von uns entwickelte Konzept der Geldproduzenten ist natürlich noch nicht bis ins Letzte durchdacht und wirft im Detail schwierige Fragen auf, z.B. ob es sinnvoll wäre die Weitergabe von Geld an Betriebe politisch zu regulieren, oder ob es möglich wäre auch Geld an die Arbeitszeitökonomie zu spenden und wie damit verfahren würde. Hinsichtlich all dieser Fragen befinden wir uns noch in der Diskussion und es ist schließlich nicht abzusehen, ob wir dieses Konzept noch einmal stärker überarbeiten werden. Letztlich wäre auch hier die Praxis ein besserer Ratgeber als theoretisch erdachte Möglichkeiten. Dennoch halten wir es für unerlässlich, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, wenn man ernsthaft an dem Aufbau einer Arbeitszeitökonomie interessiert ist.

Schlussbemerkung

Womöglich ist der Grund für so einige Missverständnisse, dass wir bisher einige Unterschiede zwischen der Arbeitszeitökonomie als Nischenform, in der unsere App auch unmittelbar genutzt werden könnte (wie wir das in unseren FAQs am Ende andeuteten) und der Arbeitszeitrechnung als solcher nicht richtig erklärt haben. Wie angedeutet, denken wir, dass die App wahrscheinlich in liberalen Staaten verwendet werden könnte, zumindest in dem Maße, in dem liberale Staaten auch Zeitbanken, kooperative Zusammenarbeit usw. zulassen. Wir behaupten nicht, dass die Nutzung der App in einem liberalen Staat revolutionär wäre. Sie hätte eher experimentellen Charakter, wäre eine Art Reformismus, aber möglicherweise einer mit revolutionärem Potenzial, zumal es einen (wenn auch vorerst nur geringen) ökonomischen Unterschied gibt zwischen genossenschaftlichen Nischen mit Geld- und solchen mit Arbeitszeitrechnung.

Bei unseren Kritikern klang auch die Frage an, wie sich unsere Ideen zum Konzept der Diktatur des Proletariats verhalten. Hierüber könnte man sicherlich weitläufige Überlegungen anstellen, was von uns bisher nicht getan wurde. Letztlich sollte man auch behutsam sein mit politischen Prognosen, vor allem, wenn sie sich auf revolutionäre Umbrüche beziehen. In Anlehnung an die GIK halten wir es einstweilen für richtig, die Arbeitszeitrechnung als die verwirklichte ökonomische Diktatur des Proletariats zu betrachten. So schreibt sie: „Diese Diktatur ist für uns eine Selbstverständlichkeit, die eigentlich nicht besonders behandelt werden muss, denn die Einführung des kommunistischen Betriebslebens ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.“1 Damit soll nicht gesagt sein, dass nicht auch eine politische Diktatur vonnöten wäre. Diese müsste aber eine der Räte sein, nicht eine der Partei oder des Staates. Dabei kommt es uns aber auf Schlagworte aus dem vergangenen Jahrhundert wenig an. Generell sind wir der Meinung, dass sich Fragen der revolutionären Organisation nicht – wie im (Post-)Leninismus – um sich selbst drehen dürfen, d.h. nur um die Frage der Organisation, sondern um den ökonomischen Inhalt, und das ist eben die Arbeitszeitrechnung. Klassenkämpfe, (Massen-)Streiks, Betriebsbesetzungen können dadurch natürlich nicht ersetzt werden. Aber beides wirkt im Idealfall zusammen.

Wie vielleicht deutlich geworden ist: Wir ringen selber um die richtige Strategie. Macht es überhaupt Sinn, Kollektivbetriebe zu vernetzen, die ohnehin schon überlastet sind von den Anforderungen marktwirtschaftlicher Verwertung? Oder sollte man sich auf die Propaganda der Theorie in der Hoffnung auf die Entstehung einer politischen Bewegung für die Arbeitszeitrechnung konzentrieren? Bestenfalls arbeitet man in beide Richtungen. Aber wir sind ein sehr kleiner Verein und stehen erst in den Anfängen. Wir laden aber jeden und jede dazu ein, uns mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und bei uns mitzumachen!

1 Gruppe Internationaler Kommunisten: Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung. Hamburg, 2020. S. 300.

Initiative demokratische Arbeitszeitrechnung, 8. Dezember 2023
Pdf-Fassung: LINK