Abschaffung des Arbeitszwangs

Arbeitszeitrechnung verhindert die Aneignung fremder Arbeit. Damit wird der Zwang, für andere zu arbeiten, abgeschafft und die Herrschaft von Menschen über Menschen effektiv überwunden.

Stefan Meretz, Mitbegründer des „Commons-Instituts“ in Bonn, hat unser Konzept der Arbeitszeitrechnung (AZR) einer Kritik unterzogen1. Wir wollen auf die elf von Meretz aufgeworfenen Kritikpunkte einzeln eingehen.

(1) Meretz beginnt mit dem Vorwurf, dass die Arbeitszeitrechnung weiterhin Warenproduktion sei und das Wertgesetz nicht abschaffe. In seiner Begründung argumentiert er scheinbar marxistisch, betrachtet die Kategorien der Arbeitszeitrechnung aber rein oberflächlich und begeht deshalb elementare Verwechslungen, die mit Marx selbst zu widerlegen sind: Bloß weil Produkte die Hände wechseln, gibt es keine Marktverhältnisse. Nur weil Produkte gegen Scheine die Hände wechseln, sind diese Scheine noch kein Geld (oder Lohn). Nur weil Produkte Arbeitszeit beinhalten und die Gesellschaft weiß, wie viel, gibt es noch keinen Wert. Und wenn Produkte arbeitsteilig hergestellt werden, sind sie deshalb noch keine Waren.2

Warenproduktion setzt dagegen Privatwirtschaft voraus, also die private Verfügung über die Mittel der gesellschaftlichen Produktion. Diese soll in der AZR gerade abgeschafft werden. So schreibt Marx im „Kapital“, dass die Arbeitszertifikate von Robert Owens, einem frühen Vorläufer der AZR, „ebensowenig ‚Geld‘ wie eine Theatermarke“ seien. Denn Owen setze „unmittelbar vergesellschaftlichte Arbeit voraus, eine der Warenproduktion diametral entgegengesetzte Produktionsform.“3 Auch Engels macht deutlich, dass der Wert verschwindet, wenn eine Gesellschaft „sich in den Besitz der Produktionsmittel setzt“ und deshalb „die in den Produkten niedergelegten Arbeitsquanta“ direkt in Zeit ausdrücken könne.4 Die vergesellschafteten Betriebe akkumulieren die Arbeitszertifikate auch nicht (diese gelten nur im Konsum). Das heißt dass die Betriebe ihre Produktion nicht verwerten müssen. Sie reproduzieren sich ausschließlich durch sinnvolle Planung, durch den Abgleich der Planungsgrößen mit den Daten vorheriger Planungszyklen.

(2) Weiter wird bemängelt, dass in der AZR die einfache und nicht die komplizierte Arbeit zählt und jede nominelle Stunde Arbeitszeit gleich vergütet wird. Dies führe zu Verwerfungen, etwa dass geringer Qualifizierte keinen „monetären Anreiz“ hätten, eine „höhere Arbeitsintensität“ zu erreichen. Wir entgegnen, dass ganz im Gegenteil gerade eine Gesellschaft, die ungleich entlohnt, keinen Anreiz hat, die komplizierte, gefährliche, dreckige Arbeit zu vereinfachen und zu automatisieren. Wieso Meretz hier überhaupt innerhalb der marktwirtschaftlichen Logik argumentiert, bleibt schleierhaft. Der einzige Anreiz an der Weiterbildung und der Vervielfältigung der eigenen Fähigkeiten sollte das eigene leidenschaftliche Interesse dafür sein.

Das Prinzip, dass jede Arbeitsstunde gleich zählt, mag primitiv sein, es ist aber eines, von dem die Ausgebeuteten dieser Welt unmittelbar profitieren. Denn bisher zählt ihre Arbeits- und Lebenszeit kaum etwas. Außerdem führt die Gleichheit aller Arbeitsleistungen dazu, dass man sich über die Verteilung unangenehmer Arbeiten verständigen muss. Es gibt also keine Fremdsteuerung durch Marktanreize – das sollte Commonisten doch gefallen. Das Prinzip der gleichen Arbeitsstunde taugt nicht trotz, sondern wegen seiner Einfachheit als ökonomisches Grundprinzip. Betriebe können „nach einem einfachen Additions-Verfahren“ Pläne erstellen5 und für gesellschaftliche Planung relevante Informationen können „von unten“ aggregiert werden.

(3) Aber führt der „Betriebsegoismus“ nicht dazu, dass Betriebe falsche Planangaben machen? Auch hier werden von Meretz wieder fälschlicherweise Konkurrenzverhältnisse unterstellt, während die AZR Gemeineigentum an Produktionsmitteln und eine genossenschaftliche Wirtschaftsweise voraussetzt. In der AZR kann „Arbeitszeitbetrug“ leicht aufgedeckt werden, weil alle Pläne öffentlich sind und es eine allgemeine Recheneinheit gibt, die Äpfel mit Birnen vergleichbar macht. Außerdem werden Betriebe, die unverhältnismäßig hohe Arbeitsstunden aufschreiben, kaum Abnehmer für ihre Produkte finden und sich deshalb nicht wie geplant reproduzieren können.

(4) Die öffentliche Buchhaltung wird von Meretz als „verkappte Zentralplanung“ dargestellt, die Pläne in Eigenregie ändert und koordiniert sowie „Genehmigungszwang“ ausübt, bis ein sinnvolles Ganzes entsteht. Dies trifft nicht zu. Stattdessen ist die öffentliche Buchhaltung eine schlanke Instanz, deren Aufgabe nur darin besteht, die betrieblichen Pläne zu veröffentlichen und die Kontobewegungen in Arbeitszeit zu registrieren.

Alle können dann anhand der Veröffentlichungen der Buchhaltung nachvollziehen, ob Betriebe und Branchen ihre Pläne erfüllt haben. Die Gesellschaft kann, muss aber nicht, allgemeingültige Regeln beschließen, die Konsequenzen für Betriebe beinhalten, die schlecht planen und deren Konten deshalb nicht ausgeglichen sind. Anders gesagt: Pläne und Konten sind für alle einsehbar, welche Schlüsse daraus gezogen werden, ist in der Theorie nicht vorgegeben.

Die öffentliche Buchhaltung bildet die Grundlage für ökonomisches Handeln ohne Ausbeutung und Kapitalakkumulation. Sie hat nichts mit einer zentralen Planung zu tun, sondern ist ein Wirkmechanismus für die effektive Zuweisung und Tilgung von Mitteln zur Erbringung produktiver Arbeit, ohne Ausbeutung der Arbeiter:innen und ohne willkürliche Preispolitik.

(5) Daraus ergibt sich schon, dass die öffentliche Buchhaltung kein „Schattenstaat“ ist, der mit „Zwangsmitteln“ ausgestattet den betrieblichen Interessen „entgegengesetzt“ ist. Wir denken jedoch, dass es durchaus ein Vorzug der Arbeitszeitrechnung ist, dass sie betriebliche Bilanzen überprüfbar und vergleichbar macht und, weil sie eine Recheneinheit kennt, allgemeine Wirtschaftsregeln ermöglicht. Wer die Notwendigkeit von gesellschaftlicher Kontrolle in Produktion und Verteilung ernsthaft bestreitet, muss sich vorwerfen lassen, ein zu idyllisches Bild des Übergangs zu einer nichtkapitalistischen Gesellschaft zu zeichnen – oder gar kein echtes Interesse daran zu haben.

(6) Dass gesellschaftliches Eigentum und die „Rechtsform“ fortbestünden ist ein weiterer Kritikpunkt. Wir finden diesen Umstand durchaus akzeptabel, vermutlich ist er, wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms schrieb, in einer niedrigeren Phase der kommunistischen Gesellschaft sogar „unvermeidbar“. Wichtig ist uns eine realistische, nachvollziehbare Perspektive weg vom Staat und hin zu einer Selbstverwaltung der assoziierten Produzent:innen und Konsument:innen.6

(7) Eine „gesellschaftliche Spaltung in eine bezahlte und eine unbezahlte Sphäre“ bleibe bestehen und die Zuweisung von reproduktiven Tätigkeiten an Frauen werde nicht aufgehoben, so Meretz. Die Arbeitszeitrechnung kennt tatsächlich eine Spaltung, aber eine in notwendige Arbeit und freie Zeit, in ein Reich der Notwendigkeit, das zurückgedrängt und ein Reich der Freiheit, welches stetig ausgedehnt werden soll. Arbeitszertifikate würden die geschlechterhierarchische Arbeitsteilung7 grundlegend verändern. Ungleich entlohnte und bisher abgewertete (Care-)Arbeit würde gleich vergütet werden. Bisher unentlohnte Reproduktionsarbeit würde transparent gemacht, gesellschaftlich anerkannt und der Vergütung zugeführt.

(8) Die These, dass in der AZR das „Ausplünderungsverhältnis“ zur Natur bestehen bleibe, wird erneut mit Warenform und Wertlogik erklärt. In einer demokratisch geplanten Wirtschaft kann jedoch der Wachstumszwang überwunden, „äußere Natur“ geschont und letztere nicht mehr als bloßes Mittel zum Zweck missbraucht werden. Wo diese Änderung der Wirtschaftslogik nicht genügt, kann die Gesellschaft in kommunalen bis hin zu globalen Räten explizit politische Regeln finden, um beispielsweise den CO2-Ausstoß zu regulieren. Eine vergesellschaftete Wirtschaft bietet beste Voraussetzungen, diese auch durchzusetzen.

(9 und 10) Dadurch, dass Arbeiter:innen Arbeitszertifikate für den Konsum erhalten, werde „die eigene Existenz an den Zwang zur Arbeit geknüpft“, kritisiert Meretz, obwohl auch er natürlich weiß, dass frei zugängliche Vorsorge in der AZR vorgesehen ist. Warum „nicht gleich alles kostenlos für alle verfügbar machen?“, fragt Meretz und unterstellt: „Weil dann der Arbeitszwang wegfiele, ohne den das Konzept nicht funktioniert.“

Die Gründe, die für Arbeitszertifikate sprechen, sind andere: Das Einlösen von Arbeitszertifikaten kommuniziert ein wirkliches Bedürfnis, sie sind verlässliche Signale, welche Konsummittel nachgefragt werden. Weil die Maßeinheit sowohl der Arbeitszertifikate wie der Planangaben „Stunden“ lautet, können Produktion und Konsum leicht in Gleichgewicht gehalten werden. Die Zertifikate sorgen dafür, dass die Konsument:innen mit der Sphäre der Produktion verbunden sind, sich für ihr Funktionieren interessieren: Wenn ich morgen für einen Laib Brot die doppelte Stundenzahl ausgeben muss, habe ich ein vitales Interesse an der Arbeit der Bäckerei. Zertifikate sind Ausdruck und Mittel eines nicht-entfremdeten und ausbeutungsfreien Verhältnisses der Konsument:innen-Produzent:innen zu ihrem Produkt.

(11) Schließlich stimmen wir zu, dass die AZR und unsere App „anschlussfähig“ sind, nicht jedoch, weil der Arbeitszwang „im Kapitalismus schon implementiert“ ist, sondern weil nur eine Zeitrechnung einer postkapitalistischen Gesellschaft die Mittel in die Hand gibt, Ausbeutung, Wertgesetz und Staat endlich „ins Museum der Altertümer“ (Engels) zu versetzen.

Die AZR ist ein schlanker Rahmen für die allgemeine Befriedigung von Bedürfnissen. Sie verunmöglicht kapitalistische Ausbeutung. Sie gibt den verschiedenen politischen Ebenen einer Gesellschaft erst den nötigen Raum, um alle gesellschaftlichen Fragen ohne die Daumenschraube des Kapitals im Sinne von Mensch und Umwelt zu verhandeln – Fragen, die im Detail keine noch so schlaue Theorie je zu lösen vermag.

Dass unsere Theorie, wie Meretz richtig erkannt hat, relativ „einfach“ ist, liegt daran, dass sie nur Grundprinzipien erläutern und den Beschlüssen der assoziierten Produzent:innen und Konsument:innen nicht vorgreifen will. Diese sind die wirklichen Expert:innen. In der betrieblichen Praxis und in der Eroberung der Produktion liegen die wirklichen Schwierigkeiten. Der Kommunismus ist deshalb das Einfache, das schwer zu machen ist, nicht andersherum.

Initiative demokratische Arbeitszeitrechnung, 24. Juni 2024.
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