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Arbeitszeitrechnung von oben?
Kritik des Cybersozialismus von Cockshott und Cottrell
I.
Economic Planning in an Age of Climate Crisis (im Folgenden auch „Klimabuch“) erschien Oktober letzten Jahres (2022). Das Buch ist eine weitere Ko-Produktion von Allin Cottrell (Ökonom, Schottland) und W. Paul Cockshott (Informatiker, Schottland), diesmal im Amazon-Selbstverlag und in Zusammenarbeit mit dem deutschen Politologen und Ökonomen Jan Philipp Dapprich.
Wie der Titel schon verrät, sehen die Autoren im Angesicht der globalen Klimakatastrophe die Notwendigkeit der gesamtgesellschaftlichen Planung. Sie führen in die Kernthesen der Klimaforschung ein, erläutern den natürlichen und den industriell verstärkten „Treibhauseffekt“ und veranschaulichen dies anhand meteorologischer Daten und Diagramme. Sie stellen heraus, dass die Investitionen, die erforderlich wären, um die Energieversorgung auf CO2-neutraler Basis zu gewährleisten (wobei sie auch auf Atomenergie bauen!), von keinem privatkapitalistischen Unternehmen getätigt werden könnten. So plädieren sie für eine zentrale staatliche Planung der Wirtschaft. Als positives Beispiel einer solchen zentral gelenkten Wirtschaft erwähnen sie die britische Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs.
Nicht nur Feuilletonleninisten wie Slavoj Zizek flirten immer wieder mit dem sogenannten „Kriegskommunismus“, sondern auch in den verschiedensten linksliberalen publizistischen Kreisen gilt die britische Kriegswirtschaft als Meisterleistung eines staatlich „gebändigten“ Kapitalismus. In Deutschland hat Ulrike Herrmann mit ihrer jüngsten Schrift Das Ende des Kapitalismus in dieselbe Kerbe geschlagen. Man könnte natürlich auch genauso gut die deutsche Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten zum Vorbild nehmen, was sich aber gerade hierzulande wohl aus Gründen des patriotischen Anstands verbietet. Nicht zu überhören ist jedenfalls der Ruf nach einem starken Staat, der endlich durchgreift.
Genauer genommen dient Cockshott/Cottrell/Dapprich die Kriegswirtschaft als Bild, um aufzuzeigen, dass extreme soziale Schieflagen wie Kriege oder der Klimawandel nach gesamtwirtschaftlicher Planung verlangen. Worauf sie hinauswollen, ist eine sozialistische Planwirtschaft auf Basis einer IT-gestützten Arbeitszeitrechnung, wie sie sie schon 1993 in Towards a New Socialism entwickelten. Die Grundzüge einer solchen Planwirtschaft stellen sie auch in Economic Planning in an Age of Climate Crisis vor. Das Neue an ihrem Klimabuch ist aber die Verrechnung von CO2-Emissionen. Kurz gesagt, soll nun nicht mehr bloß die durchschnittliche Arbeitszeit den Wert der Produkte bestimmen, sondern auch die Höhe der Emissionen. Produkte mit einem besonders hohen CO2-Ausstoß sollen also politisch verteuert werden. Dadurch entsteht angeblich ein intrinsisches Motiv, die Produktionszweige nach und nach im Sinne einer klimaneutralen Produktion umzurüsten. Das Klimabuch ist auch mit einem Anhang versehen, in dem Software-tools für Berechnungen im Sinne ihres Planungsmodells vorgestellt werden. Da Cockshott und Cottrell nicht nur als Pioniere des sogenannten Cybersozialismus gelten, sondern auch für Planwirtschaft auf Basis der Arbeitszeit streiten, möchten wir die Neuerscheinung des Klimabuchs zum Anlass nehmen, auf ihr Erstlingswerk ausführlicher einzugehen. Es sei an dieser Stelle schon einmal angedeutet, dass die Arbeitszeitrechnung nach Cockshott und Cottrell in wesentlichen Punkten von der Arbeitszeitrechnung abweicht, die wir im Anschluss an die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) befürworten. Ein Vergleich der verschiedenen politischen Ansätze hilft womöglich zu verdeutlichen, dass die Arbeitszeitrechnung nicht nur ein technisches Instrument, sondern Bedingung und Ausdruck einer neuen Form der Selbstorganisation der Gesellschaft – neuer Produktionsverhältnisse – ist.
II.
Auf Deutsch erschien Towards a New Socialism zuerst 2006 im Papyrossa-Verlag unter dem Titel Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie. 2022 kam es zur dritten Auflage. Übersetzer und Herausgeber ist Helmut Dunkhase. In seinem Vorwort schreibt er, dass es Cockshott und Cottrell darum gehe, Lenins Losung, die Köchin müsse sowohl die Küche wie auch den Staat verwalten können, einen neuen Sinn zu geben. Dabei macht er vor allem auf die große Neuheit im Sozialismusmodell von Cockshott und Cottrell aufmerksam, nämlich die Arbeitszeitrechnung, die „an den Vorschlag von Marx in der Kritik des Gothaer Programms“ anknüpfe, aber „nach der sogenannten Wirtschaftsrechnungsdebatte in den Zwanzigerjahren im westlichen Marxismus nahezu abriss und in der Sowjetunion nur dank des Ökonomen und Statistikers S.G. Strumilin nicht ganz in Vergessenheit geriet.“ (S. 6/7) Man hätte hinzufügen können, dass auch in der Sowjetunion die Arbeitszeitrechnung von den Entscheidungsträgern nie ernsthaft erwogen wurde. Nichtsdestotrotz ist Dunkhase zuzustimmen, dass es das große Verdienst von Cockshott/Cottrell war, die Arbeitszeitrechnung einem breiteren linken Publikum wieder in Erinnerung zu rufen. Auch Heinz Dieterich befürwortet in seinem pünktlich zur Jahrtausendwende erschienenen Bestseller Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts eine „Äquivalenzökonomie“ nach dem Arbeitszeitmodell der Schotten.
Cockshott und Cottrell selber schildern in ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe, wie die Krise des sowjetischen Staatssozialismus und der Siegeszug des Neoliberalismus den Anstoß zu ihrem Buch gaben. Neoliberale Ideen seien so wirkmächtig gewesen, dass sie selbst unter Sozialisten populär wurden, die zunehmend auf marktsozialistische Modelle umschwenkten. Towards a New Socialism sei in diesem Sinne auch als Antwort auf Alec Noves Economics of Feasible Socialism zu verstehen. Cockshott/Cottrell sehen ihr Buch also als zeitgenössische revolutionäre Antwort auf die Dogmen des Neoliberalismus: „Wir meinen, dass man drei Hauptideen verbinden muss: Arbeitswerttheorie, kybernetische Regulierung und partizipative Demokratie – als eine Alternative zur liberalen Dreieinigkeit von Preis, Markt und Parlament.“ (S. 11)
III.
Diesem Zitat lässt sich auch zumindest implizit entnehmen, dass die beiden Arbeitswert und Arbeitszeit unproblematisch in eins setzen. Dabei gehen sie im Grunde wie damals die sowjetischen Ökonomen von einer planmäßigen Anwendung des Wertgesetzes aus. So schreiben sie:
„Der sowjetische Sozialismus führte (…) neue nichtkapitalistische Methoden zur Aneignung des Mehrproduktes ein. Diese Tatsache wird teilweise dadurch verdeckt, dass die Arbeiter immer noch Löhne in Rubel bekamen und das Geld weiterhin als Rechnungseinheit in der plangesteuerten Industrie diente. Aber der soziale Inhalt dieser Geldform änderte sich drastisch. (H.d.V.) In der sowjetischen Planwirtschaft war die Aufteilung zwischen dem notwendigen Produkt und den Überschussanteilen des sozialen Produktes das Resultat politischer Entscheidungen.“ (S. 18)
Hier lassen Cockshott/Cottrell die von Marx entwickelte Einsicht außer Acht, dass die Arbeitszeit als Wertsubstanz sich nicht unmittelbar in der Wertform ausdrücken kann und die auf dem Wert beruhende Produktionsweise daher notwendig auf der Verdopplung der Ware in Ware und Geld, ja auf der Abweichung von Wert und Preis beruht. Das Sowjetgeld fassen Cockshott/Cottrell hier nur noch als nominelle Recheneinheit, die der direkten politischen Steuerung dient. Dabei ist eine Wirtschaft, die mit Geld kalkuliert, gar nicht imstande, Arbeitswerte – hier im Sinne von Arbeitszeiten – exakt zu erfassen. Hierin liegen auch die Grenzen des Versuchs, sogenannte Schattenpreise zu errechnen, die solche Werte erfassen sollen. (Ein solcher Versuch geht übrigens auf den sowjetischen Ökonomen Kantorowitsch zurück, auf den Cockshott/Cottrell auch im Klimabuch wieder Bezug nehmen.) Es bedarf denn auch hochkomplizierter mathematischer Modelle, um sich diesen Idealwerten überhaupt annähern zu können. Dass genau dies Ausdruck davon sein könnte, dass eine auf dem Wert, d.h. der Warenproduktion beruhende Ökonomie sich gegenüber den Menschen verselbstständigt hat und der Kontrolle der Gesellschaft entzieht, wird von Cockshott und Cottrell gar nicht problematisiert.
IV.
Es ist zwar zu begrüßen, dass Cockshott und Cottrell den sowjetischen Sozialismus an seinen eigenen Ansprüchen messen, die Debatten der Sowjetökonomen ernst nehmen und nicht der Kapitalisten-Propaganda anheimfallen, drüben sei nur ineffiziente Misswirtschaft zugunsten einer korrupten Nomenklatura betrieben worden. Nichtsdestotrotz übersehen sie oder spielen zumindest herunter, wie verwandt der Staatssozialismus mit dem Kapitalismus war und so auch ähnlich entfremdete Verhältnisse schuf. Wie die GIK in ihren Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung klar erkannte, muss, wenn alle Arbeitsprodukte einen Wert besitzen, auch die Arbeitskraft einen Wert haben und allein dieser bestimmt den Anteil der Produzenten am Konsum. Die Arbeit bleibt so Lohnarbeit. Das ist keine Frage der politischen Entscheidung, sondern das zwingende Ergebnis einerseits der betrieblichen Struktur in der UdSSR, des Staatseigentums, und andererseits der fortgeführten Geldwirtschaft. Diese wollen Cockshott und Cottrell angeblich überwinden und durch die Arbeitszeitrechnung ersetzen; aber die Betriebe wollen sie im Staatseigentum belassen! So untergraben sie nur ihren eigenen Anspruch, Ungleichheit durch die „volle Verfügung“ der Arbeitenden „über den Ertrag ihrer Arbeit“ (S. 43) zu beseitigen. Die Arbeitszeitrechnung soll genau das ermöglichen und hier ist den beiden vollkommen zuzustimmen.
In der Version von Cockshott und Cottrell würde die Arbeitszeitrechnung jedoch im Widerspruch zu einer Betriebsstruktur stehen, die weiterhin durch Herrschaft gekennzeichnet wäre. Das zeigt sich dann auch in Alternativen aus dem Rechner ziemlich schnell, da die Arbeitszeitrechnung und ihr egalitäres Prinzip nicht konsequent durchgeführt, sondern vielmehr schrittweise aufgeweicht wird.
V.
Es beginnt bei den Arbeitszertifikaten. Diese sollen – zunächst wie im Konzept der GIK – die im Betrieb geleistete Arbeit vollständig vergüten. Die durch den Lohn versteckte Aneignung von Mehrarbeit soll dadurch unmöglich gemacht werden. Natürlich können die Arbeiter*innen nicht den vollen Ertrag ihrer Arbeit erhalten. Es muss gesellschaftliche Arbeit auf den Reservefonds, den Akkumulationsfonds und die öffentliche Fürsorge verwendet werden, die vom Konsum der Arbeiter*innen abgezogen wird. Hier haben Cockshott/Cottrell ein Berechnungsverfahren, das zu der Berechnung des Faktors für individuellen Konsum (FIK) in dem GIK-Konzept analog ist. Dabei gehen sie von der prinzipiellen Gleichartigkeit der Arbeiten aus, in dem Sinne, dass eine Stunde geleisteter Arbeit – gleichgültig welche – auch mit einer Stunde vergütet werden sollte. Um alle Diskriminierung durch unterschiedliche Vergütung zu vermeiden, sollen unterschiedliche Niveaus in der Ausbildung oder verschiedene Arbeitsinhalte nicht zu unterschiedlichen Vergütungen führen. So weit, so gut. Doch schon mit Blick auf die Verteilung unangenehmer Arbeiten erwägen die beiden die Möglichkeit, Arbeiter*innen mit höherer Vergütung in diese Bereiche zu locken. Hier weisen sie immerhin auf die Gefahren hin, die eine solche Maßnahme mit sich brächte und befürworten die Rationalisierung unangenehmer Arbeiten. Gleich im Anschluss führen sie aber ein Bewertungssystem ein, das die unterschiedlichen Leistungen der Arbeiter*innen unterschiedlich vergütet. So schreiben sie:
„Moralische Probleme können entstehen, wenn die Menschen glauben, dass sie mehr als die übliche Anstrengung ‚umsonst‘ erbringen oder dass ein Kollege trödelt und es sich auf dem Rücken der Kumpel gemütlich macht. Ein Weg, Anstrengung zu belohnen, wäre eine allgemeines ökonomisches System der Arbeitsbewertung. Zum Beispiel könnte es drei Kategorien der Arbeit geben, A, B und C, wobei B die durchschnittliche Produktivität bedeutet, A über dem Durchschnitt und C unter dem Durchschnitt. Neue Arbeiter könnten als ‚B‘-Arbeiter beginnen und dann ihre Leistung bewerten lassen (…) mit der Möglichkeit, auf A oder C neu bewertet zu werden. (…) ‚B‘-Arbeiter würden eine Arbeitsanleihe pro Stunde erhalten, ‚A‘-Arbeiter etwas mehr und ‚C‘-Arbeiter etwas weniger. Die Bezahlung müsste in solchen Proportionen festgelegt werden, dass die Gesamtsumme der Arbeitsanleihen der Gesamtsumme der geleisteten Arbeitsstunden entspricht. Die genaue Bezahlung könnte automatisch per Computer errechnet werden, sobald die Anzahl der Personen in jeder Kategorie bekannt ist.“ (S. 58f.)
Wir zitieren diese Passage so ausführlich, weil sie für die Sozialismusvorstellung von Cockshott und Cottrell symptomatisch ist: „Moralische Probleme“ in einem Betrieb werden dort nicht unter Kolleg*innen gelöst, wie das in einem konsequent selbstverwalteten Betrieb der Fall wäre, sondern über staatliche Anreize und Skalierungen verschiedener Leistungsgruppen, die die Konkurrenz unter Arbeitskolleg*innen nur befördern würden. Der Staat, der beständig umfassende Daten über Konsum und Leistung der einzelnen Arbeiter*innen sammelt – allein das sollte schon Bauchschmerzen bereiten – soll dann anhand dieser Leistungsskala Arbeitszertifikate umverteilen. Ob das transparent vonstatten ginge? Von Anfang an wären Diskriminierung und Fremdaneignung von Zertifikaten Tür und Tor geöffnet!Besser wäre es, den Grundsatz der gleichen Vergütung einer Arbeitsstunde nie zu verlassen.
VI.
Einmal mehr lässt sich gegen die beiden Schotten der Verdacht erheben, dass ihre Arbeitszeitrechnung eine bloß äußerliche Form ist, in der ausgeklügelte Technik mehr zählt als neue Beziehungsformen, ja Selbstverwaltung. Dieser Verdacht erhärtet sich denn auch im weiteren Verlauf ihrer Argumentation. So soll die Arbeitszeit bei ihnen den tatsächlichen „Wert“ der Produkte nur annähernd wiedergeben, zumal für den zwischenbetrieblichen Güteraustausch gar keine betriebliche Arbeitszeitrechnung vorgesehen ist, sondern Naturalplanung mit Input-Output-Tabellen des Sowjetökonomen Leontief. Mit deren Hilfe soll erfasst werden, wie viel Arbeitszeit aus der Produktionsmittelindustrie – in Form von Naturalgütern (Rohstoffe, Maschinen, Halbfabrikate) – auf die Konsumgüterindustrien entfällt. Dabei geht es aber immer nur um Näherungswerte, die nur mit Hilfe von Computern errechnet werden können.
Einfacher wäre es gewesen, man hätte die Arbeiter*innen in den Betrieben ihre Arbeitszeit selbst erfassen lassen. Dafür hätten Stift und Zettel ausgereicht. Aber auf eine solche Idee kommen Cockshott und Cottrell erst gar nicht, für sie sind die Betriebe nichts anderes als Funktionen eines großen kybernetischen Organismus. (Daher auch ihr Exkurs über die Versuche der Allende-Regierung in Chile in den Betrieben kybernetische Steuerung einzuführen.) Jedenfalls sollen dann die Outputs der Produktionsmittelindustrie mit den Outputs der Konsumgüterindustrie verrechnet bzw. davon abgezogen werden, um auf diese Weise durchschnittliche Arbeitsstunden für die einzelnen Konsumgüter zu ermitteln. Diese können dann die Arbeiter*innen mit ihren Arbeitszertifikaten erwerben.
Auch hier lassen Cockshott und Cottrell gleich wieder Abweichungen zu. Um nämlich Angebots- und Nachfrageüberhängen entgegenzusteuern, soll der Staat Gleichgewichtspreise festlegen, die von den „Arbeitswerten“ abweichen. Bei Knappheit bestimmter Güter sollen die Preise über ihren Wert angehoben, bei Überfluss unter ihren Wert abgesenkt werden. Das Ziel ist, die Verbraucher*innen in ihrem Konsumverhalten entsprechend zu beeinflussen. Was ist das, wenn nicht staatlich gelenkte Marktwirtschaft, computergestützte Marktsimulation? Ins Staunen wird man auch versetzt, wenn Cockshott und Cottrell auf der Notwendigkeit von Pachtzahlungen bestehen, auf einer Form staatlich angeeigneter Grundrente. Wie soll diese in einer Arbeitszeitrechnung bitte schön erfasst werden? Die Arbeitszeitrechnung wird hier durch unzählige staatliche Regularien derart ausgehöhlt, dass man sich fragt, was davon noch übrig bleibt und warum der Staat, wenn ohnehin überall von den „Werten“ abgewichen wird, nicht gleich bei der Geldrechnung bleibt? In Economic Planning in an Age of Climate Crisis kommt es Cockshott und Cottrell folgerichtig kaum noch darauf an, ob nun die Geld- oder die Arbeitszeitrechnung das Wahre ist. Hier sprechen sie von der Arbeitszeitrechnung nur noch als möglichem Verfahren. Makroökonomische Steuerung scheint ihnen wichtiger zu sein als die Belange der Produzent*innen.
VII.
Das zeigt sich auch an ihrem Demokratieverständnis: Das Rätesystem – bei der GIK für die Arbeitszeitrechnung unerlässlich – verwerfen Cockshott und Cottrell mit dem Argument, es müsse notwendig zur Einparteiendiktatur oder zum Parlamentarismus führen. Woher sie diese Gewissheit nehmen, bleibt unklar. Offenbar gehen sie davon aus, dass das Schicksal der Räte in der Sowjetunion – nämlich ihre gewaltsame Entmachtung – unausweichlich war.
Doch sie fahren lieber mit einem Exkurs zur politischen Theorie der Antike fort: Wahlen gelten ihnen als prinzipiell aristokratisch oder oligarchisch und nur das Losverfahren und die Ämterrotation als wahrhaft demokratisch. Die Einführung solcher Verfahren mag ja für eine Basisdemokratie bedenkenswert sein, doch fragt sich, ob mit Theorien aus dem Altertum die moderne Staatlichkeit überhaupt begriffen werden kann? Cockshott und Cottrell müssen selber zugeben, dass der moderne Staat auf „zentralistischen, hierarchischen Prinzipien“ (S. 226) beruht. Konsequenzen ziehen sie daraus nicht. Sonst hätten sie die Fallstricke, die mit zentraler staatlicher Planung einhergehen, wenigstens einmal thematisiert. Zudem kommen sie überhaupt nicht auf die Trennung von Staat und Gesellschaft zu sprechen, obwohl diese doch für das Verständnis moderner Staatlichkeit zentral ist.
VIII.
Wie soll nun aber gesellschaftliche Planung in ihrer sozialistischen Demokratie aussehen? Es sind „Teams von professionellen Ökonomen“, die „alternative Pläne aufzeigen, um sie einem Planungsausschuss vorzulegen, der dann daraus auswählt. Nur die grundlegenden Entscheidungen (die Höhe der Steuern [!]; der für Investitionen, Gesundheit, Bildung usw. vorgesehenen Prozentsatz des Nationaleinkommens) würden durch direkte Volksabstimmung herbeigeführt werden.“ (S. 227) Abstimmen sollen die Bürger*innen von ihren Fernsehgeräten aus – heute würden sicherlich Onlineabstimmungen diese Stelle einnehmen. Das macht die Cockshott-Cottrell’sche Cyberdemokratie aber nicht besser, denn es bliebe dabei, dass die Menschen Expert*innen über ihre Leben beratschlagen lassen und über deren Pläne nur abstimmen. Wie in der modernen Demokratie sind sie bloß Stimmvieh.
Ferner sollen öffentliche Einrichtungen „durch eine Vielzahl von Ausschüssen kontrolliert werden können“ (ebd.). Solche Ausschüsse, die immerhin direkte gesellschaftliche Gremien – und keine staatlichen – sein sollen, nennen Cockshott und Cottrell auch – Räte. Es bleibt ein Rätsel, weshalb sie wenige Seiten zuvor das Rätesystem durch den Kakao gezogen haben und die Anhänger der Räteidee „gedankenlose“ Nostalgiker (S. 220) nannten. Vermutlich, weil sie die Arbeiterräte einfach ablehnen. Von der Organisation der Betriebe, von deren Zusammenhang mit den Planungsinstanzen, ja von den Formen der Arbeiter*innenselbstverwaltung wollen sie jedenfalls nichts wissen. Auch die Aufhebung der alten Arbeitsteilung interessiert sie nicht. Hier entlarvt sich ihr Modell als Technokraten-Phantasie, als Utopia linker Fachökonom*innen und -informatiker*innen. Der Fortbestand der Herrschaft der geistigen über die körperliche Arbeit wäre damit jedenfalls sichergestellt. Die Argumentation von Cockschott und Cottrell bewegt sich überhaupt in einer Logik der „Gouvernementalität“ (Foucault): Hier sind wirtschaftliche Akteure nur noch Steuerungsgrößen, die über Anreizsysteme in die gewünschte Richtung bewegt werden, und die der Gegenstand andauernder bevölkerungspolitischer Maßnahmen bleiben. Letztlich schwebt Cockschott und Cottrell bloß ein mit Kybernetik und Partizipation aufgemotzter Sowjetstaat vor. Wir erinnern: Partizipation ist das Gegenteil von Selbstverwaltung! Auch dass Cockshott und Cottrell zum Übergang in den Sozialismus nichts zu sagen haben, passt da ins Bild. Der einzige Akteur in ihrer Theorie ist der Staat (oder die Planungsbehörden). Dass die Revolution ein Prozess ist, in dem die Produktionsmittel von den Arbeiter*innen erst einmal angeeignet werden müssen und Vergesellschaftung sich dann nur durch Selbstverwaltung einstellen kann, das wird übergangen. Die Wissenschaftler setzen auf die Revolution von oben.
IX.
Dennoch enthält Alternativen aus dem Rechner Punkte, die eine neue Theorie der sozialistischen Planwirtschaft berücksichtigen sollte. So die Aufteilung der gesellschaftlichen Planung in drei Planungsebenen: die makroökonomische, die strategische, die detaillierte Planung. Allerdings sollten diese drei Planungsebenen auch tatsächlich auf verschiedene Akteure verteilt sein und nicht wie bei Cockshott und Cottrell vereint in einer zentralen Planungsbehörde. In einer dezentralen Planwirtschaft, wie wir sie vorschlagen, würde die detaillierte Planungskompetenz bei den einzelnen Betrieben liegen. Aus den einzelnen Planangaben, die bei der öffentlichen Buchhaltung zusammenlaufen, ergäbe sich ein makroökonomisches Gesamtbild, aus dem ersichtlich wäre, wie viel Arbeitszeit auf die verschiedenen Sektoren der Ökonomie verwandt wird. Es könnte auch zurückgemeldet werden, wie viel jeweils verwandt werden müsste (schließlich wären die Betriebe durch die Konsumgenossenschaften über die Bedürfnisse informiert). Die strategische Planung aber obläge höheren Gremien, die von der GIK als Rätekongress bezeichnet wurden. Wie auch immer diese aussehen mögen, sie bleiben doch insofern unerlässlich, als bestimmte Rahmenbedingungen des Wirtschaftens von der Gesellschaft im Vorfeld festgelegt werden müssten. Dazu gehören wohl Fragen des Wachstums (das sich immer auf Kosten der Konsumtion vollzieht!), ökologische Fragen (heute mehr denn je!) und die Fragen technologischer Entwicklung (vgl. S. 95). Fragen der strategischen Planung können natürlich nur auf der Grundlage makroökonomischer Daten sinnvoll besprochen werden. Diese würde die Gesellschaft von der öffentlichen Buchhaltung problemlos erhalten. Die strategische Planung würde wiederum die detaillierten Pläne der Einzelbetriebe durch Vorgaben oder Richtlinien lenken. So wären die Planungsebenen gewissermaßen wie Gewalten geteilt und keine davon würde zu viel Macht auf sich ziehen.
X.
Auch mit Blick auf den Außenhandel stellen Cockshott und Cottrell wichtige Überlegungen an. Wahrscheinlich die ersten Überlegungen zum Außenverhältnis einer Arbeitszeitökonomie überhaupt! Lässt man einmal die Träumerei fallen, dass eine große Revolution die Welt mit einem Schlag in den Sozialismus überführt, stellt sich die Frage, wie sozialistische Nischen aus der Marktwirtschaft Güter beziehen können, wenn sie darauf angewiesen sind und selber über keine Geldwirtschaft mehr verfügen. Cockshott und Cottrell erwägen hier Wechselkurse für Arbeitszertifikate und Geld. Zertifikate dürften in den kapitalistischen Sektor gespeist werden, Geldhandel müsse im sozialistischen Sektor jedoch strikt untersagt bleiben. Da stimmen wir zu. Bei Cockshott und Cottrell bleibt das Außenverhältnis aber ein Verhältnis von Staaten. Das ist zwar historisch einsichtig. Es ist aber auch die Folge ihrer Theorie. Eine Arbeitszeitrechnung, die – wie von uns vorgeschlagen – dezentral läuft und ohne Staat auskommt, könnte dagegen auch langsam und im Kleinen wachsen und sich dann quer zu den nationalen Grenzen ausbreiten. Eine solche Zeitökonomie müsste sicher über Geldreserven verfügen. Die würden hier aber nur als Gebrauchswerte fungieren, damit Betriebe sich aus dem marktwirtschaftlichen Kreislauf die nötigen Produktionsmittel beschaffen können. Auch in unserem Vorschlag wäre der interne Handel mit Geld untersagt, wenn alles nach Plan läuft, sogar unmöglich.
Was Alternativen aus dem Rechner also lesenswert macht, ist, dass es Arbeitszeitrechnung in einen makroökonomischen Zusammenhang stellt. Nur auf dieser Ebene wird klar, warum eine sozialistische Wirtschaft eine neue Maßeinheit braucht – was von romantischen Kommunist*innen allzu gern verkannt wird. Doch muss die Arbeitszeitrechnung dem Griff der Gouvernementalität entzogen werden. Nur so gewinnt sie ihre ursprünglich politische Bedeutung zurück, die Grundlage einer transparenten und egalitären Form der Vergesellschaftung zu sein.
- William Paul Cockshott / Allin Cottrell: Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie, 3. Auflage 2022
- W. P. Cockshott / A. Cottrell / Jan Philipp Dapprich: Economic Planning in an Age of Climate Crisis
Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung, 28. August 2023
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