Wir veröffentlichen an dieser Stelle eine Doppelrezension unseres Vereines. Es handelt sich um zwei Bücher von Philip Broistedt und Christian Hofmann, die sich mit der Arbeitszeitrechnung beschäftigen.
Von Initiative demokratische Arbeitszeitrechnung (IDA), 31.10.2022
I.
So, diesmal gibt’s eine Buchbesprechung im Doppelpack: »Goodbye Kapital – Die Alternative zu Geld, sozialem Elend und ökologischer Katastrophe« von 2020 (im Folgenden »Goodbye Kapital«) und »Planwirtschaft – Staatssozialismus, Arbeitszeitrechnung, Ökologie« von 2022 (im Folgenden »Planwirtschaft«) von Philip Broistedt und Christian Hofmann.
Unsere Kritik an diesen Büchern betrifft zwar nur kleine, aber doch feine Aspekte der Arbeitszeitrechnung. Große Anerkennung verdient der Anspruch von Broistedt/Hofmann, Ware, Geld, Kapital zu überwinden und dabei – was leider so selten ist – die Arbeitszeitrechnung als Alternative ins Spiel zu bringen. Was wir bemängeln ist, dass sie dazu neigen, die Arbeitszeitrechnung als ein Tool unter vielen statt als A und O der kommunistischen Ökonomie (in ihrer frühen Phase) zu behandeln. Wir sagen: Entweder ist die Arbeitszeitrechnung das Grundprinzip der assoziierten Wirtschaft oder nicht, etwas dazwischen kann sie nicht sein.
Nichtsdestotrotz empfehlen wir beide Bücher aufs Wärmste! Ähnlich wie z.B. in Günther Sandlebens »Gesellschaft nach dem Geld – Arbeitszeitrechnung als Alternative« von 2022, sehen wir in ihnen Indizien für eine neu entstehende Debatte um Arbeitszeitrechnung.
II.
Zunächst zu »Goodbye Kapital«, einem Buch über die Alternative zum Kapitalismus aus bewegungslinker Perspektive. (Diese nennen Broistedt/Hofmann manchmal übrigens Communismus mit C) Im ersten Kapitel spannen die Autoren einen Bogen von der Arrabelion über Occupy bis hin zur aktuellen Ökologiebewegung. Ihr Punkt ist, dass soziale Bewegungen scheitern, wenn sie sich nicht »grundsätzlich mit der Macht der Profitlogik, die in der Gesellschaft herrscht, auseinandersetzen« (S. 11).
Broistedt/Hofmann wollen sich von der Vorstellung von »gängigen zyklischen Krisen« des zeitgenössischen Kapitalismus lösen und von einer »allgemeinen Krise, einer Krise in Permanenz« ausgehen (S. 46, 134). Sie verweisen dabei auf die »Wirtschaftskrise« von 2008, die »nicht bewältige Staatsschuldenkrise«, die »Klimakrise«, »riesige Migrations- und Fluchtbewegungen« oder die Corona-Pandemie. Heute, im vermeintlich heißen Herbst 2022, ließe sich die Liste problemlos mit Wohnungsnot, dem Ukraine-Krieg, der Energiekrise und Inflation fortsetzen.
Die Krise in Permanenz erfordert es laut Broistedt/Hofmann, »Antworten und Ideen zu entwickeln« (S. 46). Es überzeugt, wenn die Autoren auf die zentrale Frage der jüngeren sozialen Bewegungen weltweit, nämlich »Wie kann Geld in den Dienst der Menschen gestellt werden?«, keine Antwort geben. Sie weisen stattdessen, ohne unsolidarisch zu werden, die Falschheit der Frage nach. Geld werde in den Dienst der Menschen gestellt, indem man es überwindet (S. 80). Genauer gefasst: Für Broistedt/Hofmann können nur bestimmte Funktionen des Geldes in den Dienst der Menschen gestellt werden, und das sind: »messen, vermitteln und repräsentieren […], nicht in der gegenständlichen Gestalt eines anderen Wertes, sondern unmittelbar.« (S. 82) Und das geht eben nur mit der durchschnittlichen Arbeitsstunde!
III.
Im zweiten Kapitel gelangen Broistedt/Hofmann zu einer werttheoretischen Kritik des Geldes. Einer der Höhepunkte von »Goodbye Kapital«! Es gelingt den Autoren, auch Menschen ohne große Vorkenntnisse in politischer Ökonomie in die Arbeitswertlehre einzuführen. Ihren Anspruch, Marx in »eigenen Worten und Formulierungen« zu präsentieren, lösen sie ohne Zweifel ein. An »rechthaberischen Marx-Zitateschlachten« haben sie kein Interesse (S. 11). Sie wollen auch keinen »akademischen Text für Philosophiestudent*innen produzieren, sondern für alle verständlich sein, die sich eine andere Welt wünschen.« (S. 11) Dazu gehört für sie auch, keine Hellseherei zu betreiben, sondern gesellschaftliche Tendenzen und Implikate aufzuspüren (S. 100). Unser kleiner Einwand wäre bloß, dass sie auch mit dieser Methode mehr Flagge hätten zeigen können.
IV.
In Kapitel drei geht es dann um »Plan und Arbeitszeitrechnung«. Hier umreißen Broistedt/Hofmann die Wesensmerkmale einer Wirtschaft, die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an Produktionsmitteln und der Arbeitszeitrechnung beruht. Sie treffen dabei einige Aussagen über das Verhältnis von Arbeitszeitrechnung und Planung, die wir kurz kritisch unter die Lupe nehmen möchten.
Auf S. 72 schreiben Broistedt/Hofmann: »Also Planen und Rechnen mit Arbeitszeit – Arbeitszeitrechnung.« Diese an sich vertretbare Umschreibung der Arbeitszeitrechnung interessiert uns wegen der Reihenfolge ihrer Bestandteile, denn diese verrät ein Stück weit, dass die Autoren der Planung tendenziell Vorrang geben vor der Rechnung. Auch der Titel und der Aufbau des dritten Kapitels legen das nahe; zuerst kommt das Planen und dann die Arbeitszeitrechnung. Ein Vorrang des Planens gegenüber dem Rechnen oder – gemäß der üblichen Konnotation dieser Begriffe – ein Vorrang des „Politischen“ vor dem „Ökonomischen“ stört uns vielleicht nicht an sich. Er wird zum Problem, wenn die Kritik des Staates nicht klar genug ausfällt. Dazu kommen wir noch.
Ein weiteres Beispiel für das, was uns etwas Bauschschmerzen bereitet: Broistedt/Hofmann sagen, dass in der neuen Wirtschaft »Arbeitskraft und Produkte auf Basis der Notwendigkeiten geplant, zugewiesen und angefordert werden« statt gekauft und verkauft (S. 82). Die Arbeitszeitrechnung, wie wir sie im Anschluss an die Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland) (im Folgenden »GIK«) verstehen, ist gerade keine Zuweisung, auch keine auf Basis von – nicht näher definierten – »Notwendigkeiten«. Sie ist bedürfnisorientiertes Wirtschaften entlang der durchschnittlichen Arbeitsstunde.
Man könnte uns entgegenhalten, dass Broistedt/Hofmann an solchen Stellen die Arbeitszeitrechnung voraussetzen oder auch anderslautende Andeutungen machen. Sagen sie doch wiederholt so etwas wie, dass die Arbeitszeitrechnung die Planung »ermöglicht« (S. 82) oder ihre Basis ist (S. 83). Wir haben da Restzweifel. Es könnte sein, dass solche Stellen unsere Kritik am Planungsbegriff von Broistedt/Hofmann eher bestätigen denn widerlegen. Sie deuten eher darauf hin, dass die Autoren Arbeitszeitrechnung und Planung einander äußerlich gegenüberstellen. Wir finden es wichtig zu betonen, dass die Arbeitszeitrechnung Planung nicht nur ermöglicht. Sie ist sie zum Teil schon selbst. Dergleichen fehlt bei Broistedt/Hofmann.
Streng genommen (und mehr Strenge scheint uns in dieser erst neu beginnenden Debatte um Arbeitszeitrechnung geboten) ist die Arbeitszeitrechnung auch nicht nur die Basis der Planung, sondern ebenso ihre Folge, zumindest solange die Produktivkräfte kein Nehmen allein nach Bedürfnissen erlauben. Arbeitszeitrechnung und Planung sind zwar nicht das Gleiche, müssen aber in einem inneren Zusammenhang stehen. Wir spielen hier keine Intellektuellenspielchen. Es geht uns um den Versuch, ein paar gedankliche Weichen für eine Arbeitszeitrechnung zu legen, die nicht von Politik und Wissenschaft gemacht wird. Die Planung muss am Ende sozusagen immer darauf verweisen, dass die Arbeiter*innen sich selbst verwalten. Die Betriebe brauchen substantielle Planungsrechte (was bei Broistedt/Hofmann kaum Beachtung findet), auch wenn die Arbeitsmittel allen gehören und die Rahmenbedingungen von einem Gesamtrat gesetzt werden. Eine solche, wenn man so will, relative Planungsautonomie haben die Betriebe wiederum nur, wenn die darin arbeitenden Menschen ihre Arbeitszeiten auch selbst messen und – in ständiger Tuchfühlung mit den Konsumgenoss*innenschaften – entsprechend Initiative ergreifen.
An einer anderen Stelle sagen Broistedt/Hofmann wiederum, dass es bei der sozialistischen Planung einen »einzigen Masterplan« nicht geben soll (S. 78). Wie sollten wir das nicht begrüßen? Allerdings scheinen die Autoren auch hiermit bloß zu meinen, dass unterschiedliche Sektoren nach unterschiedlichen Plänen verlangen und nicht, dass die Betriebe die Planung weitgehend selbst übernehmen. Dabei dürfte dies das einzige Prinzip sein, das eine demokratische Arbeitszeitrechnung gewährleistet oder staatliche »Arbeitszeitrechnung» verhindert.
Einen starken Moment haben Broistedt/Hofmann wiederum auf S. 31, wo sie andeuten, dass es nicht in erster Linie darauf ankommt, ob die Planung zentral oder dezentral ausgestaltet ist (es bedarf allgemein beider Momente!), sondern darauf, ob die Produzent*innen sie selbst durchführen. Ein wenig konkreter hätten die Autoren hier dennoch werden können. Überlegungen zur nötigen Planungsautonomie der Betriebe und wie diese begrenzt sein muss durch die Rahmenbeschlüsse des Gesamtrats und eine formale Plangenehmigung durch die öffentliche Rechenstelle lassen sie, wie gesagt, leider vermissen.
V.
In Kapitel vier, überschrieben mit »Politische Formen und offene Fragen«, erörtern Broistedt/Hofmann dann so manche Schwierigkeiten, die ein Übergang in die neue Gesellschaft mit sich bringen würde. Neben den Widersprüchen »National oder international?«, »Klassen- oder Menschheitsfrage?« oder dem Spannungsverhältnis von Leistungs- und Bedarfsprinzip, geht es hier letztlich um die Frage nach dem Staat.
Ein »fertiges politisches Programm« formulieren wollen Broistedt/Hofmann dabei nicht (S. 99). »So spannend und berechtigt» die damit verbundenen Fragen auch seien, so sehr seien sie »natürlich spekulativ« (S. 100). Wirklich? Auch wir maßen uns ja nicht an, auf das schwindelerregende Wie-Kommen-Wir-Dahin? die Antwort zu haben. Auf das Wo-Müssen-Wir-Hin freilich schon. Und da diese beiden Fragen nicht ganz getrennt sind, müssen wir Broistedt/Hofmann an diesem Punkt relativieren, auch wenn eine Strategiedebatte zu führen nicht unser Kernanliegen ist, nicht hier.
Eins dürfte schon mal sicher sein: wie der Staat zu überwinden ist, lässt sich nicht zur reinen Spekulation erklären. Sonst kommt es zu Folgeproblemen. Zu diesen gehört eine verkürzte Vorstellung von den Voraussetzungen der Arbeitszeitrechnung. Es sei doch klar, dass man kollektive, vergesellschaftete, wiederangeeignete, gemeinschaftliche etc. Produtionsmittel brauche. So einfach denken sich das Broistedt/Hofmann und die meisten Freunde der Arbeitszeitrechnung. Wir hingegen meinen, in bestimmter Fortführung der »Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung« der GIK (im Folgenden »Grundprinzipien«), dass vergesellschaftete Produktionsmittel nicht nur eine Bedingung, sondern umgekehrt auch ein Resultat der Arbeitszeitrechnung sind und dieser Punkt in seinen Implikationen für eine angemessene Übergangstheorie- und strategie nicht unterschätzt werden darf. Es mag daher so sein, dass ein gewisser Zwei-Fronten-Kampf zu führen ist. Die negative Front wäre das Kapital selbst, das bestreikt, das besetzt werden muss; und die positive Front die Arbeitszeitwirtschaft, die propagiert und ausprobiert werden, ja die wachsen muss. Nur so dürfte die nötige Vergesellschaftung einerseits als Voraussetzung und anderseits als Folge der Arbeitszeitrechnung zustande kommen, schrittweise oder irgendwann auch schlagartig. Es kann jedenfalls nicht darauf gebaut werden, dass die Arbeiter*innen nach irgendeiner nicht näher bestimmten Vergemeinschaftung der Produktionsmittel plötzlich mit dem Arbeitszeitrechnen beginnen. Es wird auch nichts bringen, die üblichen linken Kämpfe um Anteile am Staat mit dem Hashtag Vergesellschaftung zu versehen.
Was den Staat betrifft, so scheinen Broistedt/Hofmann zunächst davon auszugehen, dass dieser angesichts der vielen Krisen und Katastrophen Sofortmaßnahmen zu ergreifen habe, aber zugleich auch immer stärker demokratisiert werden müsse. Die Autoren schließen andererseits auch eine »neue gesteigerte, Wirtschaftskrise« nicht aus, »bei der große Teile des Systems in kurzer Zeit zusammenbrechen, ohne dass es vorher zu langen Kämpfen kommt.« (S. 103) Soziale Kämpfe könnten »ebenso gut wie ein ökonomischer, ökologischer oder medizinischer Kollaps den Ausgangspunkt dafür setzen, zur Arbeitszeitrechnung überzugehen oder sogar übergehen zu müssen.« (S. 105) Schade, dass die Autoren an dieser Stelle nicht versucht haben, ihren Punkt näher zu erläutern. Unsere Zweifel haben wir schon angedeutet. Warum sollten die Menschen nach erfolgreichen Kämpfen oder einem Sozialkollaps auf einmal zu Stundenzetteln übergehen? Warum könnte das ein Muss sein? Auch Notwendigkeiten haben etwas mit Wollen zu tun. Soll heißen: Auch die Notwendigkeit der Arbeitszeitrechnung setzt voraus, dass diese vorher eine gewisse Verbreitung gefunden hat, ideologisch wie praktisch. Soweit die Arbeitszeitrechnung auf Seiten der radikalen Linken aber überhaupt bekannt ist, geht immer noch das Vorurteil um, diese sei, weil ja gerechnet werde, nur eine andere Form der Geldwirtschaft.
Der Optimismus von Broistedt/Hofmann, dass eine Zusammenbruchssituation von selbst zur Arbeitszeitrechnung führen könnte, erweist sich daher als etwas deplatziert. Er hat, wie erwähnt, mit einem recht traditionellen Begriff von Vergesellschaftung zu tun, in dem wohl oder übel die Verstaatlichung lauert.
So mag es auch wenig verwundern, wenn die Autoren auf S. 110 schreiben: »Vielleicht ist der bürgerliche Staat in einer Krisensituation gezwungen, die Banken oder die großen Industrien zu verstaatlichen. Eine solche Entwicklung gälte es dann unter Umständen voran- und über sich hinauszutreiben.« Schwierig. Kann es zwischen dem Vorantreiben der Verstaatlichung und dem über die Verstaatlichung Hinaustreiben dieses »und« geben? Und wenn ja, warum sollte das nur »unter Umständen« gemacht werden? Die Autoren können sich hier entweder nicht entscheiden oder widersprechen sich. Unserer bescheidenen Einschätzung nach zeigt die historische Erfahrung, dass Verstaatlichung mitnichten zur Selbstverwaltung der Arbeit treibt. Broistedt/Hofmann sagen selbst, wenn schon nicht in »Goodbye Kapital«, so in »Planwirtschaft« (S. 32), dass aus den Texten von Marx und Engels »deutlich hervorgeht, dass eine soziale Umwälzung, ganz im Gegensatz zum real existierenden Sozialismus, unmittelbar [eig. Herv.] dazu übergehen müsse, alle Wert-, Geld- und Warenverhältnisse aufzuheben und den Staat in die Gesellschaft zurückzunehmen.«
Broistedt/Hofmann lassen auf ihre konsequente Negation des Geldes insgesamt also leider keine solche des Staates folgen. Sie halten es für möglich, dass auch Verstaatlichungen zu einer Gesellschaft führen, in die der Staat zurückgenommen ist. Dann müsste aber auch das Geld für die Einführung der Arbeitszeitrechnung indienstgenommen werden können, was sie ja zu Recht verneinen (die wohl unvermeidliche Geldnutzung in einer Übergangszeit und im Außenverhältnis ist übrigens etwas anderes). Historische Beispiele für Verstaatlichung mit Selbstverwaltungsfolge vermissen wir bisher. Selbstverwaltung wird für eine Arbeitszeitrechnung, die ihren Namen verdient, jedoch unbedingt gebraucht. Arbeitszeitrechnung ist demokratisch oder nichts. Sollte ausgerechnet der Staat sie einführen?
In »Planwirtschaft« (S. 25) scheinen Broistedt/Hofmann da ein bisschen weiter zu sein als in »Goodbye Kapital«. Denn hier bezweifeln sie eher, ob es in der russischen Revolution möglich gewesen wäre, durch die staatsgetriebene »nachholende Industrialisierung zu einer gesamtgesellschaftlich geplanten Arbeitszeitrechnung überzugehen«. Fakt sei, dass »diese nirgends zum Tragen kam und von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht einmal in Betracht gezogen wurde.«
Zwar sehen Broistedt/Hofmann auch in »Goodbye Kapital» (stellenweise) die Notwendigkeit eines »radikalen Bruchs« . »In diesem eignet sich die Mehrheit der Gesellschaft die Arbeitsmittel bewusst an und beginnt, für ihre eigenen Bedürfnisse statt für den Markt zu produzieren. Ansonsten entfaltet sich der Wert […] immer aufs Neue und wirkt dann immer intensiver und extensiver« (S. 110) Eine Verstaatlichung kann hiermit zwar kaum gemeint gewesen sein. Das Zitat bleibt dennoch fragwürdig. Dem reinen Wortlaut nach verkennen die Autoren, dass auf Basis angeeigneter Arbeitsmittel auch eine – nicht näher definierte und folglich wohl ohne die Arbeitsstunde als Recheneinheit auskommende – Produktion »für die eigenen Bedürfnisse« den Staat auf den Plan ruft und sich so aufs Neue der Wert entfaltet – siehe nur das bolschewistische Russland. Tatsächlich wäre – Stand jetzt, da die Idee der Arbeitszeitrechnung noch ein völlig marginales Dasein fristet – solch ein Szenario, in dem trotz bewusster Aneignung der Produktionsmittel und Produktion für »eigene Bedürfnisse« die Stunde des Staates schlägt, sehr wahrscheinlich. Nicht das Label der Bedürfnisbefriedigung, nur die Arbeitszeitrechnung garantiert (in der Anfangsphase der Revolution) eine Produktion jenseits von Markt und Staat und somit entlang der Bedürfnisse.
VI.
Problematisch finden wir damit zusammenhängend einen weiteren Punkt. Broistedt/Hofmann neigen dazu, die Möglichkeit der Arbeistzeitrechnung für das 19. Jahrhundert zu verneinen und foglich auch die heutige Möglichkeit der Arbeistzeitrechnung zu sehr auf Innovationen wie »Stempelkarten, Barcodes und Scanner« zurückführen (S. 13 ff). Dies, obwohl sie Technikutopien ansonsten verwerfen. Die Frage nach der Möglichkeit der Arbeitszeitrechnung liegt unseres Erachtens durchaus tiefer, auf der Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sicher haben die höhere Arbeitsteilung und Digitalisierung neuerdings die Chancen der Arbeistzeitrechnung erhöht. Im Kern ist und bleibt die Arbeitszeitrechnung aber eine neue Sozialbeziehung, die dadurch möglich wird, das Menschen sie kennen und wollen. »Was Kautsky von seiner ökonomischen Zentrale aus nicht kann, das können die Produzenten selbst sehr gut« , heißt es so schön in den »Grundprinzipien« der GIK. (Übrigens, wer Kautsky nicht kennt, darf ihn hier durch seinen persönlichen Lieblingsgernegroß der linken Politik und Wissenschaft ersetzen.)
Problematisch ist auch, dass Broistedt/Hofmann die staatliche Planungsbürokratie der Sowjetunion (stellenweise) nicht auf das Ausbleiben der Arbeitszeitrechnung zurückführen, sondern auf die »geringe Entwicklung der Sowjetunion« (S. 96). Die Bürokratie sei ein Ausdruck des Fehlens gesellschaftlicher Produktion gewesen, die erst geschaffen werden musste. Das verwundert, wo die Autoren an anderer Stelle gegen Paul Mason und allerhand Akzelerationisten und Star-Trek-Kommunisten so schön ins Feld führen, dass alle bisherigen Utopieversuche (in Form von Kommunen) nicht etwa deswegen gescheitert sind, weil »Wirtschaft, Technologie und Kultur nicht ausreichend entwickelt waren« (S. 128).
Wir finden, dass der Hauptgrund für das Entstehen der Sowjetbürokratie darin gesehen werden muss, dass das Wertgesetz nicht überwunden wurde und man dies – mit Ausnahme der ersten Revolutionsjahre – nicht einmal versucht hatte. Daher ist auch der Optimismus von Broistedt/Hofmann, wonach heutige Sozialismusversuche wegen entwickelterer Arbeitsteilung, Planungstechnik oder Produktivkraft weniger bürokratieanfällig wären, so nicht gerechtfertigt. »Wir wagen hier die These« , heißt es auf S. 96, »dass die planmäßige Wirtschaft weniger Arbeitskraft in die Planung stecken müsste, als die, die in unserer heutigen kapitalistischen Gesellschaft notwendig ist. Schließlich würde es um nachhaltige Entwicklung gehen und nicht um maximalen Profit.« Dabei ist es doch so, dass nicht irgendeine »planmäßige Wirtschaft« oder ein Zweck wie der der »nachhaltigen Entwicklung« vor Bürokratie schützen. Das kann nur eine Wirtschaft, die auf der durchschnittlichen Arbeitsstunde beruht, welche die Arbeiter*innen selbst berechnet haben.
Phasenweise geht es Broistedt/Hofmann dann doch wieder um den Inhalt und nicht um die Form der Arbeitszeitrechnung, etwa wenn von Arbeitszeitkonten die Rede ist. Ob das jetzt »Papierzettel, Stempelkarten, elektronische Konten, anonyme Guthabenkarten« (S. 88) sind, erachten sie als zweitrangig. Da schlägt unser Herz natürlich wieder höher! Denn nur so kann der häufige Kurzschluss, Arbeitszertifikate seien nur eine andere Geldform oder Währung, vermieden werden. Sehr schön ist auch, dass Broistedt/Hofmann das Arbeitszeitkonto (oder wie immer man es nennen möchte) als Vermittlung zwischen Einzel- und Gesamtarbeit deuten (S. 88). Dennoch muss ab einem gewissen Punkt, wenn das mit der Arbeitszeitrechnung was werden soll, auch über konkretere Formen des Zeitkontos geredet werden, besser heute als morgen. Kleine Werbung: Mit unserer App versuchen wir schon zur Lösung dieser praktischen Probleme beizutragen: https://arbeitszeit.noblogs.org/app/.
VII.
Ein letzter Kritikpunkt zu »Goodbye Kapital«. Broistedt/Hofmann sprechen sehr zu Recht die Frage an, »wie […] unter den Bedingungen assozierter Produktion die Vergütung von einfacher und komplizierter Arbeit geregelt werden soll«? ( S. 117 f.) Den Autoren ist zunächst beizupflichten, dass diese Frage sich »nicht einfach logisch ableiten lässt, sondern politisch entschieden werden muss«. Es stimmt auch, dass es »organisatorisch kein Problem ist, ob nun bei der Verteilung jede Stunde gleich viel zählt oder nicht«. Unsere Kritik setzt jedoch da ein, wo Broistedt/Hofmann meinen, dass es »eben nur ihre Meinung« sei, wenn ihnen die Variante »Jede Stunde Arbeit zählt gleich viel« die »sympathischste« ist (S. 118). Wir sagen: Das Prinzip Arbeitsstunde=Arbeitsstunde ist nicht nur eine Meinung, es folgt auch aus der Forderung nach freier und gleicher Produktion. Und diese ist aus Analyse gewonnen. Schon im Kapitalismus hat die ungleiche Entlohnung auch für gleiche Arbeit – abgesehen von Zufällen – einen objektiven Hintergrund: das Wertgesetz selbst, das Patriarchat, den Rassismus. Warum sollte das in einer nachkapitalistischen Gesellschaft anders sein? Deren Funktionsweise sollten wir lieber keinen Meinungen überlassen.
VIII.
Nun zum Buch »Planwirtschaft«, einem Sammelband, in dem Broistedt/Hofmann als Herausgeber und Verfasser einer 44-seitigen Einleitung auftreten. Mehr als ein paar formale, ein paar kursorische Bemerkungen werden wir hierzu nicht machen (können). Vieles wurde auch schon gesagt.
Zunächst zum Aufbau des Sammelbands: in Kapitel eins mit dem Titel »Arbeitszeitrechnung und die Assoziation der freien ProduzentInnen« sind Texte von Engels, Marx, Helene Bauer und der Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland) versammelt; in Kapitel 2 mit dem Titel »Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft« solche von Neurath, Bucharin und Schljapnikow; in Kapitel 3 mit dem Titel »Planmäßige Anwendung des Wertgesetzes« Texte von Hilferding, Lenin, dem Autorenkollektiv sowjetischer Ökonomen und Trotzki; in Kapitel 4 mit dem Titel »Planwirtschaftsdebatte 2.0« schließlich solche von Harich, Bahro, Devine und Cockshott/Cottrell.
Wie man sieht, haben die Herausgeber die Texte also nicht historisch, sondern thematisch angeordnet. Das scheint uns insoweit fragwürdig, als somit die GIK in einer Reihe mit Marx und Engels steht, obwohl sie sich doch kritisch an den Bolschewiki, an Neurath und an Hilferding abarbeitet. Auch die Kritik von Helene Bauer an Neurath steht dann auf einmal vor dem Neurath-Text. So wirkt die ganze Debatte etwas zusammenhangslos.
Manche Textauszüge (vor allem die von Bahro und der GIK) und die Begründung ihrer Auswahl durch die Herausgeber fallen unserer Erachtens auch leider etwas kurz aus. Im Textauszug der GIK fehlt im Grunde der ganze Konsumtionsaspekt der Arbeitszeitrechnung. Mit Blick auf Meister Hilferding wäre es vielleicht aufschlussreicher gewesen, statt seiner Rede über »Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik« (1927) die Ausführungen zum Generalkartell aus seinem »Finanzkapital« (1910) herauszustellen. Hilferdings reformistisches Blabla entlarvt sich ja längst von selbst; sein ökonomisches Konzept rund ums Generalkartell kann auf der Linken aber immer noch herumgeistern, auch da wo diese rockig revolutionär daherkommt.
Was wir Broistedt/Hofmann und ihrer themenbezogenen Textauswahl wiederum zugutehalten ist, dass dadurch die GIK den Platz findet, den sie verdient, nämlich bei Marx und Engels und unter dem Banner der »Assoziation der freien ProduzentInnen«. Ebenso, dass Marx so endlich im Team Arbeitszeitrechnung unterkommt – (ein für Traditionsmarxisten und Neue-Marx-Lektoren wahrlich Unerhörtes).
IX.
Wofür Broistedt/Hofmann des weiteren großer Lob gebührt: Helene Bauers »Geld, Sozialismus und Otto Neurath« von 1923 gefunden und neben den klassischen Arbeitszeitrechnereien von Engels, Marx und der GIK abgedruckt zu haben! Helene Bauer ist übrigens die einzige Frau, die in dieser Textsammlung zu Wort kommt – was kein Vorwurf den Autoren gegenüber sein soll. Sie haben so ja, ob freiwillig oder nicht, einen historischen Skandal sichtbar gemacht. Wir wollen hier daher eine Symbolik hineinlesen: die kommende Arbeitszeitrechnung wird feministisch sein – oder es wird sie nicht geben! Auch deswegen kann, wie schon angedeutet, die Forderung nach Gleichbewertung aller Arbeitsstunden nicht nur eine Meinung sein. Den Feminismus behandelt Helene Bauer in diesem Text zwar nicht. Sie plädiert für die Notwendigkeit einer Recheneinheit im Sozialismus und besteht darauf, dass Geld eben nicht bloß eine Recheneinheit ist. An diesem Punkt stimmt sie schon 1923, also einige Jahre vor den »Grundprinzipien«, mit der GIK überein. Sie hält bloß an den Worten Geld, Ware, Preis fest, während die GIK von Arbeitszertifikaten, Produktionszeit oder Verbrauchspreis sprechen will. Von Bauers hohem Problembewusstsein zeugen in diesem Text auch einige Hinweise auf die Übergangsprobleme einer Arbeitszeitwirtschaft im Verhältnis zu ihrer kapitalistischen Umwelt – Probleme, mit der sich jeder Versuch, bewusst nach Arbeitszeit zu wirtschaften, wird auseinander setzen müssen.
X.
Abschließend noch einige Worte zur Einleitung in den Sammelband. Broistedt/Hofmann lehnen hier das bolschewistische Sozialismusmodell und die dazugehörigen Debatten (als deren Teil sie zu Recht auch Trotzki ansehen!) eindeutig und durchaus überzeugend ab. Als »charakterisch für die ArbeiterInnenbewegung des 20. Jahrhunderts« erachten sie die »starke Fixierung auf den Staat« und sehen darin ein »Erbe der deutschen Sozialdemokratie bzw. der von ihr geprägten II. Internationale« (S. 39). Sie scheinen sich selbst über diese Kritik hinaus aber leider wenig zuzutrauen – besonders, was die »Planwirtschaftsdebatte 2.0« betrifft, obwohl ihre Kritik an Harich, Devine und Cockshott/Cottrell doch ins Schwarze trifft! (Keiner der neueren Ansätze habe es demnach geschafft, »die Marxsche Arbeitszeitrechnung konsequent als Grundlage einer Planung jenseits von Wert- und Marktverhältnissen zu verarbeiten«, S. 47) Sicherlich haben Broistedt/Hofmann das Buch in der Absicht herausgegeben, nur Impulse für eine noch kommende Debatte zu geben und keine fertigen Rezepte zu präsentieren. Man hätte sich gleichwohl gewünscht, dass sie etwas stärker Farbe bekennen, damit es überhaupt klare Positionen gibt, um die gestritten werden könnte.
Zur Handschrift von Broistedt/Hofmann gehört es zwar unverkennbar, das Gewicht der ökologischen Frage für einen neuen Sozialismus herauszustellen. Ein »gutes Leben im Rahmen der planetaren Grenzen« sei nur noch auf Basis einer »gesamtgesellschaftlichen Planung der Ökonomie umsetzbar, welche die natürlichen Ressourcen und Belastungsgrenzen des Planeten einbezieht«. (S. 28) So sehr wir dem Ökologieaspekt dieser Aussage zustimmmen, so bleibt für uns weiterhin offen, auch mit Blick auf unsere Kritik zu »Goodbye Kapital«, was hierbei mit der »gesamtgesellschaftlichen Planung der Ökonomie« genau gemeint ist, ja was eine solche von zentralistischer Planung unterscheiden würde. Auch wir befürworten gesamtgesellschaftliche Planung, auch eine innerhalb planetarer Grenzen. Möglich wird das, wie wir finden, jedoch erst dadurch, dass die Planung von den Einzelbetrieben ausgeht, die die Produktionsmittel im Auftrag der Gesellschaft verwalten. Ein – wenn auch nur rhetorischer – Anklang hieran (wie auch eine diesmal stimmige Rangfolge von Rechnen und Planen) findet sich im Schlusswort der Einleitung, wo Broistedt/Hofmann ihre Forderung nach einem dringend benötigten Bruch mit dem Kapitalismus zusammenfassen: »Eine sozial-ökologische Umwälzung als Bedingung für die Emanzipation des Menschen auf Grundlage von Arbeitszeitrechnung und gesellschaftlich-genossenschaftlicher Planung.«
Philip Broistedt/Christian Hofmann, »Goodbye Kapital – Die Alternative zu Geld, sozialem Elend und ökologischer Katastrophe«, PapyRossa, Köln, 2020, 142 Seiten
Philip Broistedt/Christian Hofmann (Hrsg.) »Planwirtschaft – Staatssozialismus, Arbeitszeitrechnung, Ökologie«, Promedia, Wien, 2022, 175 Seiten
Rezension als pdf: Rezension Planwirtschaft_Goodbye Kapital