Wir stellen die Arbeitszeitrechnung in der aktuellen Ausgabe 1/2025 des express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit vor. Unser Text kann im Folgenden nachgelesen werden:
Zeit ist Geld?
Initiative demokratische Arbeitszeitrechnung (IDA) zum Modell der Demokratischen Arbeitszeitrechnung
Es ist unübersehbar, dass sich die Linke in weiten Teilen der Welt in einer tiefen Krise befindet. Obwohl die Dynamik des Kapitals die Welt immer schneller an den Rand des Abgrunds drängt, wurde eine überzeugende Alternative zum Kapitalismus in den vergangenen Jahrzehnten nicht entwickelt.
Viele der Alternativmodelle kranken aus unserer Sicht daran, dass sie a) staatsfixiert bleiben, b) den Kapitalismus nicht überwinden oder c) zu komplex sind. Insbesondere der letzte Punkt wird häufig unterschätzt. Aus unserer Sicht muss ein wirtschaftliches Prinzip leicht zu verstehen und umzusetzen sein, wenn es nicht zu Bürokratismus, Dirigismus und Elitismus führen soll. Dieser Text plädiert deshalb für die Arbeitszeitrechnung als eine überraschend simple Methode einer dezentralen Planwirtschaft.
Dieses System könnte die Grundlage für eine kommunistische Wirtschaftsvision bilden, die auf der Linken lange gefehlt hat. Es plädiert für Vergesellschaftung, Arbeiter:innenräte und Genossenschaften. Dabei liegt der Fokus auf gleicher Vergütung für alle Arbeit und der Abschaffung von Ausbeutung, Klassenstrukturen, Ungleichheiten und Hierarchien.
Zur Aktualität der Arbeitszeitrechnung
Die Theorie der Arbeitszeitrechnung entstand in der Rätebewegung der 1910er und 1920er Jahre und wurde zuerst 1930 im Buch „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“ dargelegt.1 Bevor man sie vorschnell als „veraltet“ zu den Akten legt, sollte man bedenken, dass diese Theorie vielleicht der einzige historisch nicht kompromittierte Versuch ist, die Marxsche Theorie konsequent zu verwirklichen. Sie hat im Sozialismus des 20. Jahrhunderts leider kaum eine Rolle gespielt.
Wie die meisten Sozialismustheorien geht sie vom gemeinschaftlichen Besitz an Produktionsmitteln aus, doch Arbeiter:innenkontrolle und Selbstverwaltung sind ihr keine äußerlichen Zutaten, sondern unverzichtbare Voraussetzungen. Sie fordert, dass die Arbeiter:innen ihren Betrieb tatsächlich kontrollieren, über ihn verfügen und für ihn verantwortlich sind und nicht bloß formal über Staatseigentum daran beteiligt sind. Vorausgesetzt ist also, dass die Produktionsmittel in relevanten Branchen unter die Kontrolle von Arbeiter:innenräten gelangen, um eine Selbstverwaltung der Gesellschaft zu ermöglichen.
Die spontane Bildung von Arbeiter:innenräten erfolgte in vielen revolutionären Umbrüchen des 20. Jahrhunderts, beispielsweise in Russland 1917, Deutschland-Österreich-Ungarn 1918/1919 oder Spanien 1936. Auch nach dem zweiten Weltkrieg ereigneten sich viele massenhaften Aneignungen durch Fabrikräte, etwa in Frankreich 1968, Portugal 1974 oder Argentinien 2001. Der Rätegedanke zeigte sich auch danach in Form von Platzbesetzungen, Fabrikübernahmen und in Kollektivbetrieben lebendig.
Ein einfaches Prinzip
Wir als Initiative demokratische Arbeitszeitrechnung (IDA) streiten für diese Theorie nun seit etwa drei Jahren in Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Artikeln und sind dabei in unterschiedlichsten politischen Lagern auf viel Resonanz gestoßen. Im Sommer 2023 entspann sich zum Beispiel eine acht Ausgaben andauernde Debatte in der Jungle World .2 Insbesondere nach Vorträgen bemerken wir, dass diese Theorie wie kaum eine andere in der Lage ist, Diskussionen anzuregen. Der Grund liegt vermutlich darin, dass sie sehr konkret ist und ihre Grundprinzipien relativ einfach zu verstehen sind.
Die Grundprinzipien bestehen im Wesentlichen aus dezentraler, betrieblicher Planung einerseits und zentraler Veröffentlichung dieser Pläne andererseits. Genauer gesagt sind die Betriebe angehalten, ihre Pläne zu veröffentlichen, in denen sie die Arbeitszeit notieren, die sie für die Herstellung eines bestimmten Produktes benötigen. Im Gegenzug erhalten sie eine entsprechende Anzahl von Arbeitszeitzertifikaten, mit denen sie Produkte anderer Betriebe konsumieren können. Jede geplante Arbeitsstunde in der Produktion, unabhängig von ihrem konkreten Inhalt, entspricht somit einer Stunde im Konsum. Jede Stunde zählt gleich.
Marx drückte diese Idee in der Kritik des Gothaer Programms so aus: „Er [der Produzent] erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet.“ (MEW Bd. 19, S. 20)
Erweiterungen des Prinzips
Aus diesem sehr simplen Prinzip lassen sich einige Erweiterungen ableiten. Wir wollen vier herausgreifen.
Erstens gibt es natürlich Produkte und Dienstleistungen, für deren Konsum keine Arbeitszertifikate notwendig sein sollen. Man denke an Nahverkehr, Kinderbetreuung, Pflege, Gesundheit, Bildung – eben das, was Marx in dem obigen Zitat „gemeinschaftliche Fonds“ nannte. Um den öffentlichen Sektor, der solche Produkte bereitstellt, auszustatten, werden nicht alle Arbeitszertifikate an die Produzent:innen zum privaten Konsum ausgegeben, sondern teilweise zurückbehalten. Die Höhe dieses Abzugs wird berechnet, indem die Größe des öffentlichen Sektors zur Gesamtwirtschaft ins Verhältnis gesetzt wird. Im Endeffekt erhalten Arbeiter:innen pro gearbeitete Stunde beispielsweise nur noch 0,8 Stunden Zertifikat für den privaten Konsum. 0,2 Stunden fließen in den öffentlichen Sektor.
Zweitens gibt es eigentlich zwei Arten von Arbeitszertifikaten: für den privaten Konsum, die z.B. an Arbeiter:innen, Student:innen, Rentner:innen oder Arbeitsunfähige gehen, und für den produktiven Konsum, die ausschließlich auf Konten der Betriebe existieren. Wenn Betriebe Pläne schreiben, unterscheiden sie deshalb zwischen der im Betrieb geleisteten lebendigen Arbeit, die Zertifikate für den privaten Konsum einbringt, und der in den verwendeten Produktionsmitteln steckenden Arbeit, für die sie einen Arbeitszeit-Kredit erhalten.
Im Grunde kann man die betrieblichen Pläne als ein Produktionsversprechen an die Gesellschaft verstehen, wofür die Betriebe von der Gesellschaft ein Guthaben an Stunden erhalten, um die nötigen Produktionsmittel zu beziehen und die Arbeiter:innen mit Zertifikaten zu vergüten.
Drittens wird die Gesellschaft, um die Einhaltung dieses Produktionsversprechen zu überprüfen und um Verschwendung und Missbrauch zu verhindern, voraussichtlich ein Interesse an Plankontrolle haben. Diese Plankontrolle darf aber nicht zu Willkür und Bürokratismus führen. Deshalb müssen Plangenehmigungen nach allgemeinen und gleichen Regeln ablaufen. Ob ein Betrieb in der Vergangenheit gut geplant hat, sollte dabei ein wichtiges Kriterium sein, denn nur durch gute Planung kann Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht gehalten werden.
Viertens gehen wir schließlich davon aus, dass selbstverwaltete Betriebe zur Kooperation neigen und sich in Branchenverbänden oder Gilden zusammenschließen. In diesen Branchenverbänden werden Durchschnittsarbeitszeiten von Produkten berechnet. Konsument:innen bezahlen somit also einen „Durchschnittspreis“.
Arbeitszeitrechnung und Freiheit
Die erwähnte Öffentlichkeit der Konten und Pläne sowie die allgemeinen Regeln der Plankontrolle bieten Schutz vor Willkür und haben einige weitreichende Implikationen für den freiheitlichen Charakter der Arbeitszeitrechnung: Da mit den Kontenbewegungen die tatsächliche Nachfrage nach Produkten transparent vorliegt, bräuchte es gute, außerhalb der Arbeitszeitrechnung selbst liegende Gründe, um einen Plan abzulehnen, dessen Produkt wie geplant produziert und nachgefragt wurde. Zeitungsredaktionen, Druckereien und Papierhersteller sind beispielsweise nicht von Regierungszuweisungen abhängig, sondern nur von der Nachfrage. Die wirklichen Bedürfnisse der Menschen sind ausschlaggebend dafür, was produziert (und publiziert) wird.
Schließlich wollen wir darauf aufmerksam machen, dass die Arbeitszeitrechnung als Theorie bewusst nur ökonomische Grundprinzipien formuliert. Sie vermeidet das „Auspinseln“ der Zukunft und das Vorschreiben konkreter Verfahren aus politischen Beweggründen. Die tatsächlichen Assoziationen müssen auf Basis lokaler Begebenheiten entscheiden, welche Arbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anerkannt wird oder wie streng die Plankontrolle gehandhabt wird.
Die Rolle der Gewerkschaften
Manche Mitglieder unseres Kollektivs sind Mitglieder von DGB-Gewerkschaften, andere der FAU, andere gehören keiner Gewerkschaft an. Manche waren Betriebsräte. Wir arbeiten in der Pflegebranche, der IT, Gastronomie, Wissenschaft oder als Selbstständige. Aus unserer Sicht schlägt dieses Modell vor, wofür Gewerkschaften seit jeher kämpfen oder kämpfen sollten: Arbeiter:innenkontrolle in den Betrieben und Durchsetzung „guter Arbeit“; gesellschaftlicher Einheitslohn und Gleichberechtigung, unabhängig von Geschlecht, betrieblicher Funktion, Herkunft oder Branche; Abschaffung der Konkurrenz und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; ein gut ausgestatteter öffentlicher Sektor; kürzere Arbeitstage; bessere Produkte; Ende der strukturellen Arbeitslosigkeit und des Wachstumszwangs; vollkommene Transparenz der Lieferketten; effektive Steuerung der Wirtschaft gegen die ökologische Katastrophe.
Wenn wir in diesem Text von „der Gesellschaft“ sprechen, die Entscheidungen trifft, dann meinen wir damit vor allem politische und ökonomische Räte. Die Vertretungen der Arbeiter:innen, mit imperativem Mandat ausgestattet, spielen darin eine zentrale Rolle. Eine Debatte über die Zukunft muss deshalb besonders in Gewerkschaften und Betrieben geführt werden. Wir laden Gewerkschaftsaktive, Betriebsräte, einfache Gewerkschaftsmitglieder und Lohnabhängige herzlich dazu ein.
Wolfgang Schaumberg ist nur zuzustimmen, wenn er unter der Überschrift „Die Zeit erobern“ schon vor vielen Jahren schrieb: „Wir können und müssen in unseren Debatten die Wut darüber schüren, dass ein menschenwürdiger Umgang mit der Zeit bei der Herstellung von Produkten wie Dienstleistungen unter kapitalistischen Bedingungen einfach unmöglich ist.“3
Fußnoten
- 1 Gruppe Internationaler Kommunisten (2020): Grundprinzipien kommunistische Produktion und Verteilung, Red & Black Books.
- 2 Initiative demokratische Arbeitszeitrechnung (2023): Diskobroschüre. Dokumentation einer Debatte über demokratische Arbeitszeitrechnung , Berlin. Download und Bestellmöglichkeiten unter: https://arbeitszeit.noblogs.org/publikationen/
- 3 Wolfgang Schaumberg (2006): Eine andere Welt ist vorstellbar? Schritte zur konkreten Vision, Reihe Ränkeschmiede, Nr. 16, Frankfurt a.M.. 2006. Download unter: https://www.express-afp.info/raenkeschmiede/; als Broschüre bestellbar über die Redaktion des express.